Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
durchaus plausibel, denn dass er kaum etwas über seinen Vater wusste, hatte Jack schon immer bedauert. Mit seiner Rückkehr war nun wohl nicht mehr zu rechnen; höchstwahrscheinlich würde er unterwegs an einer Dombaustelle vorbeikommen, eine Stelle annehmen und sich dort niederlassen. Durch die Suche nach seinem Vater erfuhr er womöglich nie etwas von seinem eigenen Sohn.
»Ich würde ihm gerne nachreisen«, sagte Aliena. »Aber es ist so schrecklich weit!«
»Na und? Tausende haben die Strapazen einer Pilgerfahrt nach Santiago schon auf sich genommen. Warum solltest du das nicht auch können?«
»Ich habe meinem Vater geschworen, mich so lange um Richard zu kümmern, bis er Graf geworden ist«, gab Aliena zurück. »Ich kann ihn nicht allein lassen.«
Ellen betrachtete sie kritisch. »Und wie glaubst du ihm derzeit zu seiner Grafenwürde verhelfen zu können?«, fragte sie. »Du besitzt keinen roten Heller, und außerdem heißt der neue Graf inzwischen William. Richard hat sämtliche Aussichten auf den Titel verloren – falls er jemals welche hatte. Du kannst ihm hier in Kingsbridge auch nicht mehr nützen als in Santiago. Du hast dein ganzes Leben diesem elenden Schwur untergeordnet, doch jetzt muss Schluss sein damit. Es ist aus und vorbei. Ich glaube nicht, dass dir dein Vater daraus irgendeinen Vorwurf machen könnte. Wenn du mich fragst, so könntest du Richard keinen größeren Gefallen tun, als ihn eine Zeit lang allein zu lassen und ihm so die Gelegenheit zu geben, ein bisschen selbstständiger zu werden.«
Sie hat recht, dachte Aliena, zur Zeit kann ich Richard ohnehin nicht helfen – weder in Kingsbridge noch anderswo. Ellen hatte ihr die Augen geöffnet: Sie hatte ihre Freiheit wiedererlangt – die Freiheit, Jack zu suchen. Allein der Gedanke daran stimmte sie froh. »Aber ich habe kein Geld für eine solche Pilgerfahrt«, wandte sie ein.
»Was ist denn aus eurem großen Schlachtross geworden?«
»Das haben wir noch …«
»Dann verkauf es.«
»Das kann ich nicht. Es gehört doch Richard …«
»Verflixt und zugenäht, Aliena – wer hat es denn gekauft?«, ereiferte sich Ellen. »Hat etwa Richard in jahrelanger harter Arbeit einen Wollhandel aufgebaut? Hat Richard mit habgierigen Bauern und sturen flämischen Kaufleuten verhandelt? Hat Richard die Wolle von überallher hier zusammengetragen, gelagert und schließlich auf einem eigens dafür gefertigten Marktstand verkauft? Mach mir ja nicht weis, das Pferd gehöre ihm …«
»Er wird sich furchtbar ärgern …«
»Um so besser. Hoffentlich ärgert er sich so sehr, dass er zum ersten Mal in seinem Leben richtig arbeitet!«
Aliena öffnete den Mund, um weitere Einwände vorzubringen, schloss ihn aber wieder, ehe sie auch nur ein Wort gesagt hatte. Ellen hatte recht. Richard hatte sich in allem und jedem immer nur auf sie verlassen. Solange er um sein Erbe stritt, war sie verpflichtet gewesen, ihn zu unterstützen. Doch mittlerweile kämpfte er um gar nichts mehr; er hatte daher das Recht auf weitere Ansprüche an sie verwirkt.
Wie wäre es schön, Jack zu finden … Sie sah sein Gesicht vor sich, sein Lächeln. Wir werden uns küssen … Allein der Gedanke daran trieb ihr die Wollust in die Lenden und machte sie ganz verlegen.
»So eine Reise ist natürlich nicht ungefährlich«, sagte Ellen.
Aliena lächelte. »Das macht mir nicht die geringsten Sorgen. Ich bin das Reisen gewöhnt seit meinem siebzehnten Lebensjahr. Ich kann weiß Gott auf mich aufpassen.«
»Trotzdem. Auf dem Pilgerweg nach Santiago de Compostela treiben sich Hunderte von Leuten herum. Du solltest dich einer größeren Pilgergruppe anschließen, dann musst du nicht allein reisen.«
Aliena seufzte. »Wenn der Kleine nicht wäre – ich wäre imstande, mich sofort auf den Weg zu machen.«
»Gerade um deines Söhnchens willen musst du es tun«, hielt Ellen dagegen. »Es braucht einen Vater.«
Von dieser Seite hatte Aliena die Sache noch gar nicht betrachtet, ja, sie hatte ausschließlich eigennützige Motive in der möglichen Reise gesehen. Nun sah sie ein, dass auch das Kind Jack brauchte, nicht weniger als sie. Die tägliche Pflege des Kleinen hatte sie so in Anspruch genommen, dass sie über seine Zukunft noch nicht nachgedacht hatte. Auf einmal kam es ihr furchtbar ungerecht vor, dass ihr Sohn aufwachsen sollte, ohne seinen Vater zu kennen – dieses überschäumende, einzigartige, bewundernswerte Genie.
Sie spürte, dass Ellen sie schon fast
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