Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Frankreich liefen in Ostabat zusammen, einem Ort in den Ausläufern der Pyrenäen. Dort schwoll die Gruppe von ungefähr zwanzig Pilgern, denen Aliena sich angeschlossen hatte, auf mehr als siebzig an. Sie bildeten einen fußkranken, aber fröhlichen Verein: ein paar wohlhabende Städter, einige Leute auf der Flucht vor dem Arm des Gesetzes, ein paar Trunkenbolde und viele Mönche und Priester. Die Gottesmänner waren natürlich aus Frömmigkeit unterwegs, die meisten anderen hingegen schienen fest entschlossen, das größtmögliche Vergnügen aus ihrer Pilgerfahrt zu ziehen. Alle möglichen Sprachen wurden durcheinander gesprochen, darunter sogar Flämisch und die südfranzösische Langue d’Oc – dennoch fiel es niemandem schwer, sich verständlich zu machen, und auf dem Weg durch die Pyrenäen sangen sie gemeinsam Lieder, spielten Spiele, erzählten sich Geschichten, ja, es gab sogar die eine oder andere Liebelei.
Aliena war nicht ganz so glücklich, denn hinter Tours war ihr niemand mehr begegnet, der sich an Jack erinnerte. Allerdings traf sie auch bei Weitem nicht so viele Spielleute, wie sie angenommen hatte. Ein flämischer Pilger, der die gleiche Wallfahrt schon einmal gemacht hatte, sagte ihr, sie würden auf der spanischen Seite der Pyrenäen noch genügend Spielleute zu Gesicht bekommen.
Er behielt recht. In Pamplona erfuhr Aliena von einem Spielmann, er sei von einem rothaarigen jungen Engländer angesprochen worden; der Mann habe sich nach seinem Vater erkundigt.
Auf der beschwerlichen Pilgerstraße durch den Norden Spaniens erinnerten sich die meisten Spielleute, die Aliena befragte, an Jack. Ihre Aufregung wuchs, als ihr auffiel, dass alle behaupteten, Jack auf dem Weg nach Santiago de Compostela getroffen zu haben – nicht einer sagte, er sei auf der Rückreise gewesen.
Das konnte nur bedeuten, dass er noch immer dort war!
Je stärker sie die Strapazen der Reise spürte, desto größer wurde ihre Zuversicht. In den letzten Tagen vor der Ankunft ließ sie sich kaum noch bezähmen. Es war um die Wintermitte, doch das Wetter war angenehm mild und sonnig. Das Kind war nun ein halbes Jahr alt, gesund und munter. Aliena war felsenfest davon überzeugt, sie werde Jack in Santiago finden.
Sie erreichten ihr Ziel genau am Weihnachtstag und gingen ohne Umschweife zur Kathedrale, um an der Christmette teilzunehmen. In der Kirche drängten sich die Gläubigen. Aliena ging unablässig auf und ab und starrte in jedes Gesicht – doch Jack war nirgends zu finden. Sie mahnte sich selbst zur Geduld; schließlich war Jack nicht sonderlich fromm und ging eigentlich nur dann in die Kirche, wenn er dort arbeitete.
Bis sie eine Unterkunft gefunden hatte, war es dunkel geworden. Aliena legte sich zu Bett, doch die Vorstellung, dass Jack womöglich nur ein paar Schritte von ihr entfernt wohnte, dass sie ihn vielleicht schon am nächsten Tag sehen, ihn küssen und ihm seinen Sohn zeigen konnte, ließ sie vor Aufregung keinen Schlaf finden.
Schon im ersten Morgengrauen war sie wieder auf. Das Kind, das ihre Ungeduld spürte, saugte unregelmäßig und biss ihr sogar mit seinem kleinen Gaumen in die Brust. Hastig wusch sie den Kleinen, nahm ihn auf den Arm und machte sich auf den Weg.
In der ständigen Erwartung, Jack um die nächste Ecke biegen zu sehen, streifte sie durch die Straßen und Gassen. Wie er bei ihrem Anblick staunen würde! Und wie froh er wäre! Doch da sie ihn nirgends entdecken konnte, begann sie schließlich, in den Herbergen nach ihm zu fragen, und sprach auf den Baustellen die Leute an. Sie kannte die kastilischen Worte für Steinmetz und Rotschopf, und da die Bewohner Santiagos ohnehin Fremde gewöhnt waren, bereitete ihr die Verständigung kaum Schwierigkeiten. Doch nirgends fand sich ein Hinweis auf den Gesuchten.
Sie fing an, sich Sorgen zu machen: Jack war nicht so leicht zu übersehen, und nach allem, was sie bisher hatte in Erfahrung bringen können, musste er sich schon seit einigen Monaten hier aufhalten. Sie sah sich sogar nach seinen unverkennbaren Steinmetzarbeiten um – doch vergeblich.
Gegen Mittag sprach sie mit einer nachlässig gekleideten Frau mittleren Alters, einer Tavernenwirtin, die Französisch konnte und sich tatsächlich an Jack erinnerte.
»Ein hübscher Bursche – Eurer, ja? Nun ja, es konnte auch keines der hiesigen Mädchen bei ihm landen. Er war um Mittsommer herum hier, aber er ist nicht lange geblieben, tut mir leid. Er hat auch nicht gesagt, wohin er
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