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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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gelang es ihm oft für mehrere Stunden, nicht an Aliena zu denken.
    War er indes nicht bei Raschid zu Gast, beherrschte Aliena seine Gedanken, als hätte er sie erst tags zuvor verlassen. Weit über ein Jahr hatte er sie nun nicht mehr gesehen, und doch war die Erinnerung an sie schmerzhaft lebendig. Mühelos wusste er sich jederzeit jede Variante ihrer ausdrucksvollen Mimik auszumalen: die lachende oder nachdenkliche, misstrauische oder ängstliche, erfreute oder erstaunte und, am deutlichsten von allen, die leidenschaftliche Aliena. Er hatte nichts vergessen, keine Einzelheit ihres Körpers – die Rundung ihrer Brust, die weiche Haut ihrer Schenkel, den Geschmack ihres Kusses, den Duft ihrer Erregung. Wie schmerzlich sehnte er sich nach ihr!
    Manchmal stellte er sich, um sein fruchtloses Verlangen nach ihr zu mildern, vor, was sie in besagtem Augenblick gerade tat. Dann sah er sie im Geiste des Abends Alfred die Stiefel ausziehen und sich mit ihm zu Tische setzen, sah, wie die beiden sich küssten und liebten, und wie Aliena einem kleinen Sohn die Brust gab, der genauso aussah wie Alfred. Derlei Bilder quälten und verfolgten ihn – seine Sehnsucht nach Aliena stillten sie nicht.
    Am heutigen Weihnachtstag würde Aliena einen Schwan braten und für die Festtafel wieder mit seinen Federn bekleiden; dazu würden sie Molke trinken, die mit Bier, Eiern, Milch und Muskat vermischt war. Einen größeren Unterschied zu den Speisen, die Jack vor sich stehen hatte, konnte es kaum geben. Das Wasser lief ihm im Munde zusammen angesichts des Gerichts aus fremdartig gewürztem Lammfleisch oder Reis mit Nüssen oder den Salaten, die mit Zitronensaft und Olivenöl angerichtet waren. Es hatte einige Zeit gedauert, bis Jack sich an die spanische Küche gewöhnt hatte. Die großen Lendenstücke vom Rind, die Schweinsfüße und Hirschkeulen, ohne die in England kein Festtag denkbar war, wurden hier ebenso wenig gereicht wie in dicke Scheiben geschnittenes Brot. Hier unten im Süden Spaniens gab es weder üppige Viehweiden, die große Rinderherden ernährten, noch den fetten Boden, auf dem der Weizen gedieh. Die vergleichsweise kleinen Fleischportionen wurden daher mit unzähligen Kräutern und Gewürzen angerichtet, und statt des in England allgegenwärtigen Brots wurde eine unüberschaubare Vielfalt an Gemüsen und Früchten gereicht.
    Die Tage verbrachte Jack in Gesellschaft einer kleinen Gruppe englischer Geistlicher. Sie gehörten einer internationalen Gemeinschaft von Scholaren an, die auch Juden, Muslims und getaufte Araber einschloss. Die Engländer waren damit beschäftigt, die Werke der alten Mathematiker vom Arabischen ins Lateinische zu übersetzen, auf dass sie auch von Christen gelesen werden könnten. In fiebriger Erregung entdeckten sie Stück für Stück die Schätze arabischer Gelehrsamkeit, und Jack war von ihnen ohne viel Aufhebens als Studiosus aufgenommen worden. Sie nahmen jedermann in ihren Zirkel auf – Hauptsache, er verstand, was sie taten, und er teilte ihre Begeisterung. Sie kamen ihm vor wie Bauern, die jahrelang mühselig einem kargen Boden Früchte abgerungen hatten und sich urplötzlich in fruchtbarem Schwemmland wiederfinden.
    Jack hatte die Baukunst aufgegeben und widmete sich dem Studium der Mathematik. Bislang war es ihm erspart geblieben, für Lohn zu arbeiten, denn die Geistlichen versorgten ihn mit Kost und Logis und hätten ihm wohl auch eine neue Kutte und Sandalen gegeben, wenn er der Kleidung bedurft hätte.
    Raschid gehörte zu ihren Förderern. Da seine Handelsgeschäfte die ganze bekannte Welt umspannten und er daher mehrere Sprachen sprach, begriff er sich als Weltbürger. Zu Hause sprach er Kastilisch, die Sprache der getauften Spanier, statt des üblichen Mozarabisch. Die ganze Familie sprach außerdem Französisch, die Sprache der Normannen, die wichtige Handelspartner waren. Und wiewohl Raschid ein Mann der Geschäfte und des Handels war, besaß er doch einen hervorragenden Geist und eine unersättliche Wissbegier. Nichts liebte er mehr, als mit den Scholaren über ihre Theorien zu disputieren. Jack hatte er auf Anhieb gemocht, und so kam es, dass Jack mehrmals in der Woche bei ihm zu Gast war.
    Raschid leitete das Tischgespräch ein, indem er Jack fragte: »Nun, was haben uns die Philosophen diese Woche beigebracht?«
    »Ich habe sie mit dem Studium des Euklid verbracht.« Die Elemente des Euklid gehörte zu den ersten übersetzten Büchern.
    »Euklid? Komischer Name für

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