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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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gegolten.
    Nach dem Essen führte Raschid seine Sammlung mechanischen Spielzeugs vor. Er besaß einen Behälter, in dem man Wasser mit Wein mischen und beides wieder getrennt ablassen konnte; ein wunderbares, mit Wasser betriebenes Uhrwerk, das die Tagesstunden mit ungeheurer Genauigkeit anzeigte; einen Krug, der sich von selbst füllte, doch niemals überlief; sowie eine hölzerne Frauenstatuette, deren Augen aus einer Art Kristall waren, das in den warmen Tagesstunden Feuchtigkeit absorbierte und sie in der Abendkühle wieder von sich gab; es sah dann so aus, als weine sie. Jack war von diesen Dingen ebenso bezaubert wie Raschid, doch am meisten beschäftigte ihn die weinende Frau. Die Mechanismen der anderen Spielzeuge waren leicht verständlich, sobald man sie einmal erklärt bekommen hatte – aber niemand konnte genau sagen, wie die Holzfigur funktionierte.
    Den Nachmittag verbrachten sie unter den Arkaden des Innenhofs mit müßigem Geplauder, mit Spielen oder Dösen. Jack verspürte den Wunsch, zu einer großen Familie wie dieser zu gehören – mit Schwestern und Onkeln und Schwägern –, ein Heim zu besitzen, in dem sie alle zusammenkommen konnten, und eine angesehene Stellung in einer kleinen Stadt. Dabei fiel ihm plötzlich wieder das Gespräch ein, das er mit seiner Mutter in jener Nacht, in der sie ihn aus der Arrestzelle des Klosters befreit, geführt hatte. Er hatte sie nach den Verwandten seines Vaters gefragt, und sie hatte geantwortet: Ja, drüben in Frankreich hatte er eine große Familie. Irgendwo habe ich also eine Familie wie diese, erkannte Jack. Die Brüder und Schwestern meines Vaters sind meine Onkeln und Tanten. Vielleicht habe ich sogar Vettern und Basen, die in meinem Alter sind. Ob ich sie jemals finden werde?
    Er fühlte sich wie ein Blatt im Winde. Er konnte sich überall durchschlagen – aber er gehörte nirgendwohin. Er war ein Steinmetz gewesen und ein Baumeister, dann ein Mönch und schließlich Mathematiker, aber wer und was war er wirklich? Ob er Spielmann werden sollte wie sein Vater oder ein Verfemter wie seine Mutter? Er war jetzt neunzehn Jahre alt, ein Heimat- und Wurzelloser ohne Familie und ohne ein Ziel im Leben.
    Er spielte eine Partie Schach mit Josef, die er gewann. Dann trat Raschid zu ihnen und sagte: »Lass mich bei Jack sitzen, Josef – ich will noch etwas mehr über Euklid erfahren.«
    Fügsam überließ Josef seinem zukünftigen Schwiegervater den Platz und entfernte sich: Was er über Euklid wissen wollte, hatte er bereits vernommen. Raschid setzte sich und fragte Jack: »Ihr amüsiert Euch gut, ja?«
    »Eure Gastfreundschaft ist unübertrefflich«, gab Jack geschmeidig zurück. Er hatte höfische Manieren in Toledo gelernt.
    »Danke, aber ich meinte – mit Euklid.«
    »Gewiss. Ich glaube, es ist mir nicht gelungen zu erklären, wie wichtig dieses Buch ist. Seht Ihr –«
    »Ich denke, ich verstehe«, unterbrach ihn Raschid. »Ebenso wie Ihr erwerbe auch ich gerne Wissen um des Wissens willen.«
    »Ja.«
    »Dennoch muss sich ein Mann seinen Lebensunterhalt verdienen.«
    Jack sah keinen Sinn in dieser Bemerkung, daher wartete er darauf, dass Raschid weitersprach. Der lehnte sich jedoch mit halb geschlossenen Augen zurück, offenkundig damit zufrieden, das kameradschaftliche Schweigen zu genießen. Jack fragte sich willkürlich, ob Raschid ihm vorwarf, keinen Handel zu betreiben, und bemerkte schließlich: »Eines Tages werde ich mich wohl wieder der Baukunst zuwenden.«
    »Fein.«
    Jack lächelte. »Als ich Kingsbridge verließ – auf dem Pferd meiner Mutter und mit den Werkzeugen meines Stiefvaters in einem Säckchen über der Schulter –, da dachte ich noch, es gäbe nur eine Art, eine Kirche zu bauen: dicke Wände mit Rundbögen und kleinen Fenstern, das Ganze gekrönt von einer Holzdecke oder einem steinernen Tonnengewölbe. Und die Kathedralen, die ich auf dem Weg von Kingsbridge nach Southampton sah, lehrten mich nichts anderes. Die Normandie hat mein ganzes Leben verändert.«
    »Das kann ich mir vorstellen«, murmelte Raschid schläfrig. Da er kein großes Interesse zeigte, besann sich Jack jener Tage in Schweigsamkeit. Nur Stunden, nachdem er in Honfleur an Land gegangen war, hatte er die Abteikirche von Jumièges besichtigt. Das war die höchste Kirche, die er je gesehen hatte, und trotzdem besaß sie die üblichen Rundbogen und die hölzerne Decke. Eine Ausnahme war das Kapitelhaus, in dem Abt Urso eine geradezu revolutionäre

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