Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
gehen wollte. Ich hab ihn gemocht. Wenn Ihr ihn findet, gebt ihm einen dicken Kuss von mir.«
Aliena kehrte in ihre Unterkunft zurück und legte sich aufs Bett. Sie starrte an die Decke, erschöpft, enttäuscht und krank vor Heimweh. Das Kind greinte, doch zum ersten Mal achtete sie nicht darauf. Es war so ungerecht: Da war sie den ganzen weiten Weg bis Santiago de Compostela auf seiner Spur gewesen – und nun hatte er sich wer weiß wohin gewandt!
Immerhin: Über die Pyrenäen war er nicht wieder gezogen, und westlich von Santiago konnte er sich auch kaum aufhalten, denn da gab es nur noch einen schmalen Küstenstreifen und das Meer, das bis ans Ende der Welt reichte. Jack musste sich also nach Süden gewandt haben. Sie würde sich also auf ihrer schwarzen Stute und mit dem Kind im Arm erneut auf den Weg machen müssen, diesmal ins tiefste Spanien hinein.
Wie weit fort von zu Hause werde ich wohl sein, wenn diese Pilgerfahrt ihr Ende findet, fragte sie sich.
Jack verbrachte den Weihnachtstag bei seinem Freund Raschid Al-Harun in Toledo. Raschid war ein getaufter Sarazene, der aus dem Osten Gewürze importierte – vor allem Pfeffer – und ein Vermögen damit verdiente. Sie hatten sich zur Mittagsmesse in der großen Kathedrale getroffen und schlenderten nun in der warmen Wintersonne durch die engen Gassen und über den von vielfältigen Düften und Gerüchen durchzogenen Basar zum Viertel der Reichen.
Raschids Haus war aus blendend weißem Stein erbaut und umschloss einen Innenhof mit einem Brunnen. Die schattigen Arkaden des Innenhofs erinnerten Jack an den Kreuzgang im Kloster zu Kingsbridge. Dort allerdings sorgten sie für Schutz vor Regen und Wind – hier dienten sie dazu, die Sonnenhitze abzuhalten.
Raschid und seine Gäste saßen auf Kissen am Boden und speisten von einem niedrigen Tisch. Die Männer wurden von seiner Frau und seinen Töchtern bedient sowie von mehreren Dienerinnen, deren Stellung in diesem Haushalt durchaus Zweifel aufkommen ließ. Zwar war Raschid Christ und durfte nur eine Ehefrau haben, doch hegte Jack den Verdacht, er setze sich stillschweigend darüber hinweg, dass die Kirche Konkubinen missbilligte.
Die Frauen stellten die größte Attraktion in Raschids gastfreundlichem Hause dar. Sie waren alle schön, ohne jede Ausnahme. Raschids Gattin war eine üppige, anmutige Frau mit glatter dunkelbrauner Haut, glänzendem schwarzem Haar und feucht schimmernden braunen Augen. Seine drei Töchter waren schlankere Ausgaben der Mutter. Die Älteste war einem weiteren Mittagsgast anverlobt, dem Sohn eines Seidenhändlers in der Stadt. »Meine Raya ist eine vollkommene Tochter«, bemerkte Raschid, als sie mit einer Schüssel voller Duftwasser um den Tisch ging, damit die Gäste ihre Hände hineintauchen konnten. »Sie ist aufmerksam, gehorsam und schön. Josef kann sich glücklich schätzen.« Der Verlobte neigte zustimmend den Kopf.
Die Zweitälteste war stolz, ja hochmütig. Sie nahm es offenbar übel, dass ihre Schwester so mit Lob überhäuft wurde. Von oben sah sie auf Jack herab und goss ihm aus einer Kupferkanne ein Getränk in den Becher.
»Was ist das?«, fragte er.
»Pfefferminzlikör«, sagte sie verächtlich. Sie wartete ihm höchst ungern auf – schließlich war sie die Tochter eines angesehenen Mannes und er nur ein mittelloser Vagabund.
Jack mochte Ayscha, die jüngste Tochter, am liebsten. Er hatte sie in den vergangenen drei Monaten, die er hier verbracht, recht gut kennengelernt. Sie war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, klein, lebhaft und stets gut gelaunt. Obwohl sie drei oder vier Jahre jünger war als er, kam sie ihm nicht wie eine Jugendliche vor. Sie besaß einen wachen, wissbegierigen Kopf und löcherte ihn oft endlos mit Fragen über England und das Leben dort. Nicht selten machte sie sich über die gute Gesellschaft von Toledo lustig – über aufgeblasene Araber, über Juden, die am Essen herummäkelten, und über den schlechten Geschmack der neureichen Christen –, sodass Jack sich manches Mal ausschütten wollte vor Lachen. Von allen drei Schwestern wirkte sie, obwohl die jüngste, am wenigsten zurückhaltend. Die Art, wie sie Jack ansah, als sie sich über ihn beugte und ihm gewürzte Steingarnelen servierte, verriet unmissverständlich, dass sie zu zügelloser Ausgelassenheit neigte. Ihre Blicke kreuzten sich, und sie sagte in gekonnter Imitation ihrer hochnäsigen Schwester: »Pfefferminzlikör!« Jack musste lachen. In Ayschas Gesellschaft
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