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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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einen Araber«, bemerkte Raschids Bruder Ismail.
    »Er war Grieche«, erklärte Jack. »Er lebte lange vor Christi Geburt. Bei den Römern gingen seine Werke verloren, doch die Ägypter hielten sie in Ehren – daher ist er uns in arabischer Sprache überliefert.«
    »Und jetzt werden sie von Engländern ins Lateinische übersetzt«, kommentierte Raschid. »Höchst amüsant.«
    »Aber was habt Ihr gelernt ?«, fragte Josef, Rayas Verlobter.
    Jack zögerte – es war schwer zu erklären. Dann versuchte er es auf praktische und anschauliche Weise. »Mein Stiefvater, der Baumeister war, hat mich verschiedene Verfahren der Geometrie gelehrt – wie man eine Gerade genau kalibriert, wie man einen rechten Winkel zieht und wie man ein Quadrat in ein anderes zeichnet, sodass das kleinere genau der halben Fläche des größeren entspricht.«
    »Wozu dienen denn derartige Fertigkeiten?«, unterbrach ihn Josef ein wenig verächtlich. Er betrachtete Jack als Emporkömmling und war überdies eifersüchtig, weil Raschid Jacks Gesprächsbeiträgen so viel Aufmerksamkeit widmete.
    »Diese Fertigkeiten sind sehr wichtig bei der Planung von Gebäuden«, erwiderte Jack freundlich und tat, als wäre ihm der missgünstige Unterton nicht aufgefallen. »Nehmen wir diesen Innenhof. Die Fläche der überdachten Arkaden entspricht genau der unüberbauten Fläche im Inneren. Auf diese Art sind fast alle Innenhöfe gebaut, auch die Kreuzgänge in den Klöstern. Das liegt daran, dass dieses Flächenverhältnis dem Auge am gefälligsten ist. Wäre die freie Fläche in der Mitte größer, so sähe sie aus wie ein Marktplatz, wäre sie kleiner, so wirkte sie wie ein Loch im Dach. Um genau das richtige Gleichmaß zu finden, muss der Baumeister die freie Fläche so zeichnen können, dass sie exakt der Hälfte der Gesamtfläche entspricht.«
    »Das habe ich noch nicht gewusst!«, stieß Raschid triumphierend hervor – nichts erfreute ihn mehr, als etwas zu lernen, was er noch nicht kannte.
    »Euklid gibt uns eine Erklärung dafür, warum diese Vorgehensweise stimmig ist«, fuhr Jack fort. »So sind zum Beispiel die beiden Teile der halbierten Geraden deshalb gleich lang, weil sie zu zwei kongruenten Dreiecken gehören, deren Schenkel jeweils die gleiche Länge haben.«
    »Kongruent?«, fragte Raschid.
    »Das bedeutet deckungsgleich.«
    »Aha – jetzt verstehe ich.«
    Aber niemand sonst, darauf hätte Jack schwören mögen.
    »Ihr konntet doch aber all diese geometrischen Sachen auch schon durchführen, bevor Ihr Euklid gelesen hattet«, wandte Josef ein. »Ich sehe also nicht ganz, welchen Gewinn Ihr davon habt.«
    »Ein Mann hat immer einen Gewinn davon, wenn er eine Sache von Grund auf versteht!«, protestierte Raschid.
    »Außerdem bin ich nun, da ich die Prinzipien der Geometrie verstehe, vielleicht imstande, eine Lösung für andere, neuere Probleme zu finden, die meinen Stiefvater stets verwirrten.« Jack fühlte sich einigermaßen enttäuscht von diesem Gespräch – Euklid war über ihn gekommen wie der blendende Blitz der Erkenntnis, doch gelang es ihm offenbar nicht, den Anwesenden die atemberaubende Bedeutung seiner Entdeckungen verständlich zu machen. Er versuchte es auf anderem Weg: »Am interessantesten ist die Methode, die Euklid anwendet. Er stellt fünf Axiome auf – das sind Grundsätze, die keines Beweises bedürfen – und leitet davon alles andere logisch ab.«
    »Nennt mir ein Beispiel für ein Axiom«, bat Raschid.
    »Eine Gerade kann bis ins Unendliche verlängert werden.«
    »Das ist unmöglich«, bemerkte Ayscha, die soeben mit einer Schüssel Feigen die Runde machte.
    Die männlichen Gäste waren etwas pikiert darüber, dass sich ein Mädchen in ihre Diskussion mischte, doch Raschid lachte nachsichtig: Ayscha war seine Lieblingstochter. »Und warum ist das unmöglich?«, fragte er.
    »Irgendwann muss sie einmal ein Ende haben«, gab sie zurück.
    »Aber in deiner Vorstellung kann sie unendlich weitergehen«, sagte Jack.
    »In meiner Vorstellung können Flüsse bergauf fließen und Hunde Latein sprechen«, erwiderte sie schlagfertig.
    Das hörte ihre Mutter, die soeben das Zimmer betrat. »Ayscha!«, mahnte sie streng. »Hinaus mit dir!«
    Die Männer lachten. Ayscha zog eine Grimasse und verließ den Raum. »Wer die einmal heiratet«, bemerkte Josefs Vater, »wird alle Hände voll zu tun haben!« Wiederum lachten alle. Auch Jack lachte mit – bis ihm aufging, dass alle ihn ansahen, als hätte der Witz ihm

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