Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
konnte Buntglas ohnehin nicht seine volle Wirkung entfalten. Doch hier, in dieser Kirche mit riesigen vielfarbigen Fenstern, durch die die Morgensonne hereinstrahlte, war die Wirkung mehr als nur schön – sie war einfach hinreißend.
Die Seitenschiffe trafen sich im abgerundeten Ostende des Baus und bildeten dort einen halbkreisförmigen Wendelgang, den Jack, noch immer ganz verzaubert, abschritt, bevor er zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrte.
Dort stand eine Frau.
Er erkannte sie auf Anhieb.
Sie lächelte ihn an, und ihm war, als höre sein Herz auf zu schlagen.
Aliena beschattete ihre Augen mit der Hand. Das Sonnenlicht, das durch die Ostfenster der Kirche drang, nahm ihr die Sicht. Da trat aus dem bunten Feuer aus Sonnenstrahlen eine Gestalt, deren Haare den Kopf umwaberten wie Flammen. Sie kam näher, und Aliena erkannte, dass es Jack war.
Sie fühlte sich einer Ohnmacht nahe.
Jack kam auf sie zu und blieb vor ihr stehen. Er war mager geworden, schrecklich mager, doch seine Augen glänzten vor Begeisterung. Lange Zeit konnten sie einander nur schweigend ansehen.
Jack fand als Erster seine Sprache wieder. »Bist du’s wirklich?«, fragte er mit belegter Stimme.
»Ja.« Aliena konnte nur flüstern. »Ja, ich bin’s wirklich.«
Ihre Anspannung war so groß, dass sie in Tränen ausbrach. Jack legte die Arme um sie und drückte sie mitsamt dem Kleinen an sich, tätschelte ihren Rücken und machte »Na, na«, als wäre sie ein kleines Kind. Aliena lehnte sich an ihn, atmete den vertrauten Steinstaubgeruch, lauschte seiner geliebten Stimme, die tröstliche Worte murmelte, und ließ ihre Tränen auf seine knochige Schulter tropfen.
Schließlich sah er ihr ins Gesicht und fragte: »Was tust du hier?«
»Ich suche dich.«
»Du suchst mich?«, wiederholte er ungläubig. »Aber … Wie hast du mich gefunden?«
Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und zog die Nase hoch. »Ich bin deinen Spuren gefolgt.«
»Wie?«
»Ich habe alle möglichen Leute nach dir gefragt. Hauptsächlich Maurer und Steinmetzen, aber auch Mönche und Wirte.«
Er machte große Augen. »Willst du damit sagen, dass du bis nach Spanien gezogen bist?«
Sie nickte. »Nach Santiago, nach Salamanca – bis nach Toledo.«
»Wie lange bist du schon unterwegs?«
»Ein Dreivierteljahr.«
»Aber warum?«
»Weil ich dich liebe.«
Er war überwältigt, und seine Augen füllten sich mit Tränen. Er flüsterte: »Ich liebe dich auch.«
»Wirklich? Immer noch?«
»O ja, immer noch.«
Sie sah ihm an, dass er die Wahrheit sagte, und hob ihm das Gesicht entgegen. Er beugte sich vor, über das Kind, und küsste sie sanft auf den Mund. Die Berührung seiner Lippen machte Aliena schwindeln.
Da weinte das Kind.
Aliena trat zurück und wiegte ihren Sohn in den Armen, bis er sich wieder beruhigt hatte.
»Wie heißt das Kind?«, fragte Jack.
»Er hat noch keinen Namen.«
»Wieso nicht? Er muss doch mindestens ein Jahr alt sein!«
»Ich wollte dich erst fragen.«
»Mich?« Jack runzelte die Stirn. »Wieso nicht Alfred? Das ist doch Sache des Vaters …« Er hielt inne. »Willst du damit sagen, er ist … es ist mein Kind?«
»Schau ihn dir an.«
Jack betrachtete das Kind. »Rote Haare … Es muss ein ganzes und ein Dreivierteljahr her sein, dass …«
Aliena nickte stumm.
»Gütiger Gott!« Er war wie vom Donner gerührt und schluckte. »Mein Sohn!«
Aliena beobachtete ihn voller Bangigkeit, während er die Neuigkeit zu bewältigen suchte. Vielleicht sieht er in dem Kind nur das Ende seiner Jugend und seiner Freiheit, dachte sie. Seine Miene wurde ernst. Gewöhnlich hatte ein Mann neun Monate Zeit, um sich an seine künftige Vaterschaft zu gewöhnen. Jack stand urplötzlich vor vollendeten Tatsachen. Erneut schaute er das Kind an, und endlich lächelte er. »Unser Sohn!«, sagte er. »Ich freue mich so!«
Aliena seufzte beglückt auf. Endlich war alles wieder gut!
Jack kam ein ganz neuer Gedanke. »Was ist mit Alfred? Weiß er, dass …«
»Freilich weiß er’s. Er brauchte das Kind ja bloß anzusehen. Außerdem …« Aliena wurde verlegen. »Außerdem hat deine Mutter unsere Ehe mit einem Fluch belegt, und Alfred war niemals fähig – ach, du weißt schon.«
Jack lachte rau auf. »Es gibt also doch noch Gerechtigkeit«, bemerkte er.
Aliena missfiel seine offenkundige Schadenfreude. »Für mich war es alles andere als leicht«, sagte sie in leicht vorwurfsvollem Ton.
Sofort wurde er wieder ernst. »Entschuldige«,
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