Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
bat er. »Was hat Alfred denn getan?«
»Er warf einen Blick auf das Kind und schmiss mich hinaus.«
Ärgerlich verzog Jack das Gesicht. »Hat er dir wehgetan?«
»Nein.«
»Trotzdem – er ist ein Schwein.«
»Ich bin froh, dass er uns hinausgeworfen hat. Denn deshalb habe ich mich nach einer Weile auf den Weg gemacht, um dich zu suchen. Und endlich habe ich dich gefunden! Ich kann dir gar nicht sagen, wie glücklich ich bin!«
»Du warst ungeheuer mutig«, sagte Jack. »Ich kann’s noch immer nicht fassen. Diesen weiten, weiten Weg, den du mir gefolgt bist!«
»Ich würde es sofort wieder tun«, verkündete Aliena feurig.
Jack küsste sie noch einmal. Da sagte jemand auf französisch: »Wenn Ihr schon in der Kirche Unzucht treiben müsst, dann bleibt bitte im Mittelschiff.«
Es war ein junger Mönch. »Verzeiht, Vater«, sagte Jack und nahm Aliena am Arm. Sie schritten die Altarstufen hinunter und entfernten sich durch das südliche Querschiff. »Ich war selber eine Weile lang ein Mönch«, bemerkte Jack. »Ich weiß, wie schwer es für sie ist, mitansehen zu müssen, wie glücklich Liebende sich küssen.«
Glücklich Liebende, dachte Aliena. Genau das sind wir.
Sie verließen die Kirche und traten auf den belebten Marktplatz hinaus. Aliena konnte kaum glauben, dass sie Seite an Seite mit Jack im Sonnenschein stand. Ihr Glück war so groß, dass sie es kaum ertragen konnte.
»Schön«, sagte Jack, »und was tun wir jetzt?«
»Ich weiß nicht«, gab sie lächelnd zur Antwort.
»Wir könnten uns einen Laib Brot besorgen und eine Flasche Wein und dann in die Felder hinausreiten und dort unser Mittagsmahl essen.«
»Das klingt himmlisch.«
Sie gingen zum Bäcker und zum Weinhändler und kauften bei einer Meierin auf dem Marktplatz auch noch ein Stück Käse. Dann bestiegen sie ihre Pferde und ritten zum Dorf hinaus, den Feldern zu. Aliena konnte nicht anders, als ständig zu Jack hinüberzusehen – sie musste sich einfach vergewissern, dass er wirklich und wahrhaftig bei ihr war, an ihrer Seite ritt, lebte und atmete und lächelte.
»Wie kommt Alfred mit dem Dombau zurecht?«, fragte er.
»Oh! Das hab ich dir ja noch gar nicht erzählt! Es gab ein schreckliches Unglück. Das Dach ist eingestürzt.«
»Was?!« Jacks lauter Ausruf erschreckte sein Pferd derart, dass es beinahe durchgegangen wäre und er es zunächst einmal beruhigen musste. »Wie konnte das passieren?«
»Das weiß niemand. Sie hatten rechtzeitig für Pfingsten drei Joche überwölbt, und dann kam während des Gottesdienstes alles herunter. Es war grauenvoll! Neunundsiebzig Menschen haben dabei ihr Leben gelassen.«
»Das ist ja entsetzlich!« Jack war erschüttert. »Wie hat Prior Philip das verkraftet?«
»Schlecht. Er hat den Dombau aufgegeben. Er scheint all seine Tatkraft verloren zu haben. Als ich fortging, geschah jedenfalls überhaupt nichts.«
Philip und untätig? Diese Vorstellung fiel Jack schwer. Er hatte den Prior als einen stets begeisterten und entschlossenen Mann in Erinnerung. »Was ist aus den Handwerkern geworden?«
»Sie sind mit der Zeit alle fortgezogen. Alfred wohnt jetzt in Shiring und baut dort Häuser.«
»Kingsbridge muss ja halb entvölkert sein.«
»Es verwandelt sich wieder in das verschlafene Dorf zurück, das es einmal war.«
»Was Alfred wohl falsch gemacht hat?«, fragte sich Jack halblaut. »Tom hatte ursprünglich gar keine Steindecke geplant. Alfred hat dann die Strebepfeiler verstärkt, damit sie das Gewicht tragen konnten. Da hätte im Grunde eigentlich nichts schiefgehen dürfen.«
Die bösen Nachrichten aus Kingsbridge dämpften seine Hochstimmung. Schweigend setzten die beiden ihren Ritt fort. Ungefähr eine Meile außerhalb von Saint-Denis banden sie die Pferde im Schatten einer Ulme fest und ließen sich am Ufer eines Bächleins nieder, das an einem grünen Weizenfeld entlangfloss. Jack tat einen tiefen Zug aus der Flasche und schmatzte zufrieden. »England hat nichts zu bieten, was mit französischem Wein zu vergleichen wäre«, meinte er. Er brach das Brot und reichte Aliena ein Stück.
Schüchtern schnürte Aliena ihr Mieder auf und gab ihrem Kind die Brust. Als sie merkte, dass Jack sie dabei beobachtete, wurde sie rot. Um ihre Verlegenheit zu überspielen, stellte sie schnell eine Frage. »Weißt du schon, wie du ihn nennen möchtest? Vielleicht Jack?«
»Ich weiß nicht.« Er blickte nachdenklich vor sich hin. »Jack war der Vater, den ich nie kennengelernt habe.
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