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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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hinunter auf die Vierung zu. Je näher er dem Altarraum kam, desto deutlicher spürte er, dass er etwas ganz Besonderes entdecken würde. Trotz des einfallenden Sonnenlichts waren weder die Außenmauer noch das Gewölbe durchbrochen. Erst nachdem er aus dem Seitenschiff in die Vierung getreten war, erkannte Jack, woher das viele Sonnenlicht kam: Es schien durch mehrere Reihen hoher Fenster, von denen einige aus Buntglas waren. Die Strahlen füllten das weite, leere Kirchenschiff mit Wärme und Licht. Jack verstand nicht, woher der Baumeister den Platz für die Fenster genommen hatte – es sah aus, als bestünde die Mauer aus mehr Glas denn aus Stein. Überwältigt blieb er stehen. Wie war dieses Wunder entstanden, wenn nicht mit Hilfe von Zauberei?
    Ein Anflug abergläubischen Schreckens wollte sich seiner bemächtigen, als er die Stufen zum Altar hinaufstieg. Oben angekommen, starrte er angestrengt in das Durcheinander aus Pfeilern und Steinen und farbigem Licht, das sich vor seinen Augen ausbreitete, bis ihm ganz allmählich dämmerte, dass er schon einmal etwas Ähnliches gesehen hatte, wenngleich nur in seiner Vorstellung: Dies war genau die Kirche, die zu bauen er sich erträumt hatte – mit großzügigen Fenstern und hoher Decke, ein Gebilde aus Licht und Luft, das von schierem Zauber zusammengehalten wurde.
    Schon einen Augenblick später sah er es wieder anders. Alles hatte seinen Platz und seine Ordnung, und Jack erkannte in blitzartiger Erleuchtung, was Abbé Suger und sein Baumeister tatsächlich getan hatten.
    Das Konstruktionsprinzip eines Rippengewölbes lag darin, dass eine Decke aus wenigen mächtigen Rippen zu bestehen hatte, deren Zwischenräume mit leichtem Baustoff ausgefüllt wurden. Dieses Prinzip war hier auf die gesamte Kirche angewendet worden! Die Chorraumwand bestand aus einigen wenigen mächtigen Pfeilern, die mit Fenstern verbunden waren. Die Bogengänge, die den Chorraum von den Seitenschiffen trennten, enthielten überhaupt keine Mauern – eine Reihe von Pfeilern, gekrönt von Spitzbogen, ließ weite Durchlässe für das Licht, sodass es durch die Fenster ungehindert ins Herz der Kirche strömen konnte. Die Seitenschiffe selbst waren jeweils durch eine Reihe schmaler Säulen in zwei Hälften geteilt.
    Wie im Narthex waren überhöhte Spitzbogen und Kreuzrippengewölbe auch hier miteinander verbunden worden. Die Vorhalle – so viel erkannte Jack jetzt – war nur ein zaghafter Versuch gewesen. Sie wirkte verkrampft, ihre Rippen und Tragsteine zu plump, und die Bogen zu klein. In der Kirche selbst war alles elegant, licht und luftig. Die einfachen Walzenformen waren schmal, die Säulen lang und schlank.
    In seiner Gesamtheit wirkte das Gebäude beinahe zu zerbrechlich; man traute ihm kaum Standfestigkeit zu. Die Gewölberippen zeigten indes genau, wie das Gewicht von Stützpfeilern und Säulen getragen wurde – der schlagende Beweis dafür, dass ein großes Gebäude weder dicke Wände noch winzige Fenster, noch plumpe Stützpfeiler brauchte. Vorausgesetzt, das Gewicht wurde präzise auf das tragende Skelett verteilt, konnte alles andere aus leichtem Mauerwerk, Glas oder sogar leeren Räumen bestehen. Jack fühlte sich wie verzaubert, wie neu verliebt. Schon Euklid war ihm wie eine Offenbarung vorgekommen; und um wie viel größer und vor allem schöner war dies hier! Bisher hatte er stets nur von einer solchen Kirche träumen können – nun konnte er sie anschauen, anfassen, unter ihrem himmelwärts strebenden Gewölbe stehen.
    Wie betäubt umrundete er die Ostseite, unablässig zum Gewölbe des Doppelschiffs hinaufstarrend. Die Rippenbogen kreuzten sich über seinem Kopf wie das Astwerk eines Waldes aus ebenmäßigen steinernen Bäumen. Auch hier waren, wie schon im Narthex, die Zwischenräume der Gewölberippen mit zugeschnittenen Steinen verfugt, die ihrerseits mit Mörtel zusammengehalten wurden. Man hatte also darauf verzichtet, die leichter herzustellende, aber vom Gewicht her schwerere Mischung aus Mörtel und Bruchsteinen zu verwenden. Die Außenmauern des Seitenschiffs enthielten, immer zu zweien gepaart, große Fenster, die nach oben spitz zuliefen und genau den Spitzbogen im Kircheninneren entsprachen. Gekrönt wurde diese wahrhaft revolutionäre Bauweise vom bunten Glas der Fenster. In England hatte Jack kein einziges Mal buntes Glas gesehen, nur in Frankreich hatte er einige Beispiele studieren können. In den kleinen Fenstern einer herkömmlich gebauten Kirche

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