Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
allein auf der Welt. Ich habe meine Wurzeln gefunden!
»Schaut, das ist mein Sohn Tommy«, sagte er stolz. »Seht euch bloß seine roten Haare an!«
Die weißhaarige Frau betrachtete den Kleinen mit Wohlwollen. Dann sagte sie mit unverkennbarem Schreck in der Stimme: »Meiner Seel’, dann bin ich ja schon Urgroßmutter!«
Alles lachte.
Jack fragte: »Wie mag mein Vater nach England gekommen sein?«
Kapitel XIII
»Und Gott sprach zu Satan: ›Sieh meinen getreuen Hiob. Er unter allen Menschen ist ohne Fehl.‹« Philip machte eine effektvolle Pause in seiner freien Nacherzählung der Bibelgeschichte. »›Er hat nicht seinesgleichen auf Erden, er ist fromm und rechtschaffen und gottesfürchtig und meidet das Böse.‹ Satan aber sprach: ›Warum sollte er dich auch nicht anbeten? Hast du ihm doch alles gegeben, was er besitzt: sieben Söhne und drei Töchter, siebentausend Schafe und dreitausend Kamele, fünfhundert Joch Ochsen und fünfhundert Esel. Kein Wunder, dass er so fromm und rechtschaffen ist!‹ Und Gott der Herr sprach: ›Nimm ihm alles, was er hat, und sieh, was geschieht.‹ Und Satan ging hin und nahm Hiob alles, was er besaß.«
Philips Gedanken schweiften immer wieder von seiner Predigt ab. Diesen Morgen hatte er einen äußerst rätselhaften Brief des Erzbischofs von Canterbury erhalten, der ihm zum Erwerb der wundertätigen Weinenden Madonna gratulierte. Philip hatte keine Ahnung von einer Weinenden Madonna, und ganz bestimmt befand sich nichts dergleichen in seinem Besitz. Er sei froh zu hören, fuhr der Erzbischof fort, dass Philip wieder mit dem Bau der neuen Kathedrale beginnen wolle – doch Philip dachte gar nicht daran. Er wartete noch immer auf ein Zeichen von Gott, bevor er sich wieder ans Bauen wagte, und währenddessen hielt er den sonntäglichen Gottesdienst in der kleinen neuen Pfarrkirche. Erzbischof Theobald schloss sein Schreiben mit einem Kommentar zu Philips klugem Beschluss, einen Dombaumeister zu ernennen, der an dem neuen Chorraum von der Abtei zu Saint-Denis gearbeitet hatte. Philip hatte natürlich von der Abtei zu Saint-Denis und ihrem berühmten Abt Suger gehört – doch von dem neuen Chorraum dort hatte er keine Ahnung, und ganz gewiss hatte er auch keinen Dombaumeister ernannt, egal, woher er kam. Allmählich drängte sich ihm der Schluss auf, der Brief müsse an jemand anders gerichtet und nur durch ein Versehen an ihn gesandt worden sein.
»Was also sagte Hiob, als er seinen Reichtum verlor und seine Kinder starben? Hat er Gott verflucht und sich zu Satan bekehrt? Nichts dergleichen! Er sagte: ›Nackt bin ich geboren, und nackt werde ich sterben. Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen – gelobt sei der Name des Herrn.‹ Da sagte Gott zu Satan: ›Na, was hab ich dir gesagt?‹ Und Satan antwortete: ›Schön und gut, aber er hat immer noch seine Gesundheit, nicht wahr? Ein Mann nimmt es mit allem auf, solange er nur gesund ist.‹ Und Gott sah ein, dass er Hiob noch mehr leiden lassen musste, wollte er sein Vertrauen in ihn rechtfertigen. Also sagte er: ›Nimm ihm seine Gesundheit und sieh, was geschieht.‹ Also schlug Satan Hiob mit Krankheit, mit Geschwüren vom Kopf bis zu den Füßen.«
Es war erst seit einigen Jahren üblich geworden, in der Kirche zu predigen. In Philips Kindheit war es noch sehr selten gewesen. Abt Peter hatte die Meinung vertreten, das Predigen verführte die Priester dazu, sich zu viel herauszunehmen. Er hing noch der altmodischen Ansicht an, die Gemeinde solle bloß zuschauen – schweigende Zeugen der rätselhaften heiligen Riten –, die lateinischen Worte hören, ohne sie zu verstehen, und blind auf die Wirkungskraft der priesterlichen Fürsprache vertrauen. Aber die Zeiten hatten sich gewandelt. Die fortschrittlichen Denker sahen in der Gemeinde nicht mehr nur stumme Diener einer mystischen Zeremonie. Die Kirche, meinten sie, solle ein integraler Bestandteil ihres Alltagslebens sein. Die Kirche setzte die Meilensteine in ihrem Leben – von der Taufe über die Eheschließung und die Taufe der Kinder bis hin zur Letzten Ölung und zum Begräbnis in geweihter Erde. Sie hätte ebenso gut ihr Grundherr, Richter, Brotherr oder Auftraggeber sein können.
Auch von den einfachen Leuten wurde zunehmend mehr erwartet: Sie sollten sich nicht nur sonntags, sondern auch im Alltag als Christen erweisen. Dazu brauchten sie mehr als Rituale: Sie brauchten Erklärungen, Regeln, Ermutigung und geduldiges Zureden.
»Und
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