Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
seiner Mutter vor Augen, bot er all seine Kraft auf und betete: das Vaterunser und alle anderen Gebete und Bekenntnisse, die ihm – oft nur bruchstückhaft – in den Sinn kamen. Doch, es gab noch Dinge, die er für seine Mutter tun konnte. Er konnte Kerzen stiften; er konnte Priester und Mönche gegen Bezahlung für Mutter Messen lesen lassen; ja, er konnte für ihr Seelenheil sogar eine Kapelle bauen lassen. Doch alles, was ihm einfiel, erschien ihm auch sogleich wieder unzureichend. Ihm war, als schüttelte sie den Kopf, gleichermaßen verletzt und enttäuscht von ihrem Sohn. Und sie sah ihm ins Gesicht und sagte: »Wie lange willst du deine Mutter noch diese Höllenqualen erleiden lassen?«
Er spürte, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte, und sah auf. Bischof Waleran stand vor ihm, noch immer in dem prächtigen roten Gewand, das er ausschließlich zu Pfingsten trug. Seine schwarzen Augen schienen William durchbohren zu wollen, und William war, als gäbe es keine Geheimnisse mehr vor diesem Blick. »Warum weint Ihr?«, fragte Waleran.
Erst jetzt merkte William, dass sein Gesicht tränenüberströmt war. »Wo ist sie jetzt?«, fragte er.
»Ihre Seele wird durch das Feuer geläutert.«
»Leidet sie Schmerzen?«
»Ja, entsetzliche Schmerzen. Aber wir können die Zeit, die die Seelen unserer lieben Dahingegangenen an diesem furchtbaren Ort verbringen müssen, durchaus verkürzen.«
»Wie? Ich werde alles tun, alles!«, schluchzte William. »Sagt mir nur, wie!«
Walerans Augen leuchteten vor Habgier. »Baut eine Kirche«, sagte er. »Baut eine Kirche wie diese hier. Aber in Shiring.«
Kalte Wut packte Aliena, sooft sie durch die ehemaligen Ländereien ihres Vaters kam. Die vielen verstopften Gräben, die geborstenen Zäune und die leeren, halbverfallenen Kuhställe erregten ihren Zorn; die verwahrlosten Weiden machten sie traurig; und die verödeten Dörfer wollten ihr schier das Herz brechen. Es lag nicht allein an den schlechten Ernten. Die Grafschaft hätte ihre Einwohner durchaus ernähren können, selbst in diesem Jahr noch, wäre sie nur ordentlich geführt worden. Doch William Hamleigh hatte keine Ahnung, wie Land zu verwalten und zu bewirtschaften war. Ihm bedeutete die Grafschaft nichts weiter als eine private Schatztruhe. Hatten seine Leibeigenen nichts zu essen, so verhungerten sie. Konnten seine Pächter ihre Pacht nicht mehr bezahlen, so warf er sie hinaus. Seit William Graf geworden war, hatte die bebaute Fläche mehr und mehr abgenommen. Die Natur eroberte sich die Höfe enteigneter Pächter zurück. Und William war so dumm, dass er nicht erkannte, wie sehr er sich mit seiner Politik auf lange Sicht ins eigene Fleisch schnitt.
Das Schlimmste an allem war, dass Aliena sich vorwarf, für die Misere mitverantwortlich zu sein. Richard und sie hatten versagt. Sie hatten keinen Versuch mehr unternommen, die Grafschaft zurückzugewinnen. Nachdem der König William zum Grafen ernannt und Aliena ihr gesamtes Vermögen verloren hatte, waren sie in Tatenlosigkeit verfallen. Dieses Versagen erbitterte Aliena noch immer, und der Eid, den sie ihrem Vater geschworen, war unvergessen.
Auf dem Weg von Winchester nach Shiring, unterwegs mit einer Ladung Garn und einem stämmigen Fuhrmann, der ein Schwert an seinem Gürtel trug, erinnerte sich Aliena eines gemeinsamen Ritts mit ihrem Vater auf derselben Straße. Indem er Wälder roden, Sümpfe trockenlegen und Hanglagen unter den Pflug nehmen ließ, hatte Vater beständig neues Ackerland geschaffen. Für schlechte Jahre hielt er stets genügend Saatgut bereit, um jenen auszuhelfen, die es aus Sorglosigkeit oder vor Hunger versäumt hatten, ihr eigenes aufzuheben. Nie hatte Graf Bartholomäus einen Pächter gezwungen, sein Vieh oder seinen Pflug zu verkaufen, um damit die Pacht zu bezahlen – wusste er doch zu gut, dass damit der Ertrag des folgenden Jahres erst recht nicht stimmen würde. Er hatte sein Land gepflegt wie ein guter Bauer seine Milchkuh – und auf diese Weise dafür gesorgt, dass es fruchtbar und ertragreich blieb.
Jedes Mal, wenn Aliena sich der Zeiten erinnerte, da ihr kluger, stolzer, unbeugsamer Vater an ihrer Seite war, spürte sie den Schmerz über seinen Verlust wie eine offene Wunde. Nachdem man ihn damals fortgeschleppt hatte, war alles immer schlimmer geworden. Alles, was sie seither getan, kam ihr nichtig vor: dass sie sich in ihre Traumwelt versponnen und mit Matthew in der Burg geblieben war; dass sie in der vergeblichen
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