Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Ordnung.
Der folgende Sonntag war Pfingstsonntag, an dem sich eine riesige Menschenmenge in der Kathedrale versammeln würde. Bischof Waleran sollte den Gottesdienst abhalten. Da alle Welt das erst seit kurzem fertiggestellte neue Querhaus sehen wollte, wurde mit noch größerem Andrang als sonst gerechnet. Den Gerüchten zufolge handelte es sich um einen wahrhaft erstaunlichen Bau. William wollte die Gelegenheit dazu nutzen, dem gemeinen Volk seine Braut vorzuführen. Zwar war er, seit es die Stadtmauer gab, nicht mehr in Kingsbridge gewesen, doch Philip konnte ihn nicht hindern, in die Kirche zu gehen.
Zwei Tage vor Pfingsten starb seine Mutter.
Sie war um die sechzig, und es geschah ganz plötzlich. Am Freitag, nach dem Essen, hatte sie sich etwas kurzatmig gefühlt und war zeitig zu Bett gegangen. Ihre Zofe weckte William kurz vor Morgengrauen und berichtete, seiner Mutter gehe es schlecht. Er stand auf und taumelte, sich den Schlaf aus dem Gesicht reibend, in ihr Zimmer. Mutter lag da, rang mühselig um Luft, brachte keinen Ton heraus, und in ihren Augen stand das nackte Entsetzen.
Ihr lang gezogenes, schauriges Keuchen und ihr starrer Blick machten William Angst. Sie sah ihn unentwegt an, als wolle sie ihn dazu bringen, irgend etwas zu tun. Sie jagte ihm so viel Angst ein, dass er schon wieder das Zimmer verlassen wollte, doch da sah er ihr Mädchen an der Tür stehen und schämte sich seiner Angst. Im unsteten Licht der einzigen Kerze schien Mutters Gesicht ständig neue Formen anzunehmen. Ihr raues, abgerissenes Keuchen wurde lauter und lauter, bis es seinen ganzen Kopf auszufüllen schien. Er verstand nicht, warum nicht die ganze Burg davon aufgeweckt wurde. Er hielt sich die Ohren zu, doch das grässliche Geräusch war immer noch zu hören. Es kam ihm vor, als brülle sie ihn an, so wie sie es getan hatte, als er noch ein kleiner Junge war, eine irre, wütende Schimpftirade, und auch ihr Gesicht sah wütend aus, der Mund weit aufgerissen, die Augen starr, das Haar wirr. Die Überzeugung, sie stelle eine Forderung an ihn, bedrängte ihn mehr und mehr. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, immer jünger und kleiner zu werden, bis ihn wieder jenes blinde Grauen packte, das er seit seiner Kindheit nicht mehr empfunden hatte – das Grauen, das aus der Gewissheit kam, dass der einzige Mensch, den er liebte, ein wutschnaubendes Ungeheuer war. Es war immer das Gleiche gewesen: Sie sagte ihm, er solle zu ihr kommen oder weggehen oder sein Pony besteigen oder absitzen, und er folgte nicht schnell genug; daraufhin brüllte sie ihn an, und er bekam so große Angst, dass er nicht mehr verstand, was sie von ihm wollte. Schließlich artete das Ganze in hysterisches Geschrei aus. Ihre Stimme überschlug sich, während er nur noch blind, taub und stumm vor Entsetzen dastand.
Diesmal jedoch war es anders.
Diesmal starb sie.
Zuerst schlossen sich ihre Augen, und William beruhigte sich ein wenig. Dann wurde ihr Atem immer flacher, und ihr Gesicht verfärbte sich trotz der Geschwüre ganz grau. Sogar die Kerze schien nicht mehr so hell zu brennen, sodass die flackernden Schatten William nicht mehr ängstigten. Und dann hörte Mutter auf zu atmen.
»Na also«, sagte William, »jetzt geht’s ihr wieder besser, was?«
Das Mädchen brach in Tränen aus.
William setzte sich neben das Bett und betrachtete Mutters stilles Gesicht. Das Mädchen holte den Priester, der ärgerlich fragte: »Warum habt Ihr mich nicht früher rufen lassen?« William hörte ihm gar nicht richtig zu. Er blieb bis zum Sonnenaufgang bei der Toten, dann kamen die Dienerinnen und forderten ihn auf zu gehen, damit sie die Herrin »herrichten« könnten. William ging in den großen Saal hinunter, wo die Burgbewohner – Ritter, Waffenträger, Priester, Diener und Dienerinnen – trübselig beim Frühstück saßen. Er setzte sich neben seine junge Frau und trank ein paar Schluck Wein. Ein paar Ritter und der Hausmeister sprachen ihn an, doch William gab keine Antwort. Schließlich kam Walter herein und setzte sich neben ihn. Walter war schon so lange bei ihm, dass er wusste, wann er den Mund zu halten hatte.
Nach einiger Zeit fragte William: »Sind die Pferde bereit?«
Walter wirkte überrascht. »Wofür?«
»Für die Reise nach Kingsbridge. Die dauert zwei Tage – wir müssen heute Vormittag los.«
»Ich dachte, wir blieben hier – unter diesen Umständen …«
Der Vorschlag erregte Williams Zorn. »Hab ich gesagt, wir bleiben
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