Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Hoffnung, den König sprechen zu können, nach Winchester gezogen war; ja, sogar die Unterstützung, die sie Richard gewährt hatte. In den Augen anderer hatte sie viel erreicht, war eine wohlhabende Wollhändlerin geworden. Doch das Glück war rein äußerlich. Sie hatte einen Platz in der Gesellschaft gefunden, der ihr Sicherheit verlieh und Beständigkeit versprach, doch innerlich hatte sie sich stets verletzt und verloren gefühlt – bis Jack in ihr Leben getreten war.
Dass sie Jack nicht heiraten durfte, hatte seither alles verdorben. Prior Philip, ihr einstiger Retter und Mentor, war ihr mittlerweile verhasst. Schon seit Jahren hatte sie kein freundschaftliches Gespräch mehr mit ihm geführt. Gewiss, es war nicht seine Schuld, dass ihre Ehe nicht annulliert wurde – aber er war es, der darauf bestanden hatte, dass Jack und sie getrennt lebten, und das konnte ihm Aliena nicht verzeihen.
Sie liebte ihre Kinder und machte sich Sorgen um sie, weil sie in so unnatürlichen familiären Verhältnissen aufwuchsen. In welcher Familie verließ schon der Vater zur Schlafenszeit das Haus? Glücklicherweise zeigten sich bislang noch keine schlechten Auswirkungen: Tommy war ein stämmiger, gut aussehender kleiner Bursche, der am liebsten mit seinen Kameraden Fußball oder Soldat spielte; Sally war ein liebes, aufmerksames Mädchen, das ihren Puppen kleine Geschichten erzählte, am liebsten aber bei Jack auf dem Zeichenboden saß und ihm bei der Arbeit zusah. Die täglichen Freuden, Sorgen und Wünsche ihrer Sprösslinge und ihre einfache, kindliche Liebe waren die einzigen Konstanten in Alienas ungewollt außergewöhnlichem Leben.
Natürlich gab es da auch noch ihre Arbeit. Über verschiedene Dörfer verstreut, standen Dutzende von Männern und Frauen in ihrem Lohn, die in Heimarbeit für sie spannen und webten. Noch vor wenigen Jahren waren es sogar Hunderte gewesen, doch auch Aliena hatte die Auswirkungen der Hungersnot zu spüren bekommen und fand es sinnlos, mehr Tuch herstellen zu lassen, als sie verkaufen konnte. Ihre Arbeit machte sie immerhin wirtschaftlich unabhängig; sie hätte sie selbst dann nicht aufgegeben, wenn sie Jack hätte heiraten können.
Prior Philip behauptete nach wie vor, die Annullierung könne jederzeit ausgesprochen werden, aber inzwischen waren sieben lange Jahre ins Land gezogen, ohne dass sich an Alienas und Jacks unerträglichen Lebensverhältnissen etwas geändert hätte: Noch immer zogen sie die Kinder gemeinsam auf, nahmen gemeinsam die Mahlzeiten ein – und schliefen getrennt.
Aliena empfand Jacks Unbehagen an diesem Leben schmerzlicher als ihr eigenes. Sie betete ihn an. Niemand ahnte auch nur, wie sehr sie ihn liebte – außer Ellen vielleicht, der nichts entging. Sie liebte ihn, weil er sie dem Leben zurückgegeben hatte. Sie hatte sich wie eine Raupe in ihren Kokon versponnen, und Jack hatte sie davon befreit und ihr gezeigt, dass sie in Wahrheit ein Schmetterling war. Ohne ihn wäre sie ihr ganzes Leben für die Freuden und Leiden der Liebe unempfänglich geblieben. Er aber war zu ihrer geheimen Lichtung gekommen, hatte sie mit seinen Verserzählungen unterhalten, hatte sie schließlich sanft geküsst und dann ganz allmählich und behutsam die Liebe geweckt, die tief in ihrem Inneren schlummerte. Wie geduldig und großzügig er gewesen war, trotz seiner Jugend! Allein deshalb würde sie ihn ewig lieben.
Auf ihrem Ritt durch den Wald musste Aliena an Ellen denken, Jacks Mutter. Ob wir ihr vielleicht sogar begegnen, fragte sie sich. Die beiden Frauen trafen sich sonst nur hier und da auf einem Markt, und einmal im Jahr schlich sich Ellen bei einbrechender Dunkelheit durchs Stadttor und verbrachte die Nacht bei ihren Enkelkindern. Aliena empfand eine gewisse Verwandtschaft mit Ellen, denn sie waren beide Sonderlinge, Frauen, die nicht in den üblichen Rahmen passten. Diesmal passierten sie den Wald, ohne Ellen zu Gesicht zu bekommen.
Danach fuhren sie durch Ackerland, und Aliena achtete genau auf den Fruchtstand der Felder. In diesem Jahr wird die Ernte einigermaßen zufriedenstellend ausfallen, dachte sie. Der Sommer war zwar nicht besonders schön gewesen, eher kalt und verregnet, doch die sintflutartigen Regenfälle und die Getreidekrankheiten, die die letzten drei Ernten verdorben hatten, waren ihnen glücklicherweise erspart geblieben. Mittlerweile nagten Abertausende von Menschen am Hungertuch. Bei einem weiteren strengen Winter würden sie wie die Fliegen
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