Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
hier?«
»Nein, Herr.«
»Also gehen wir!«
»Ja, Herr.« Walter stand auf. »Ich sehe gleich nach dem Rechten.«
Um die Mitte des Vormittags brachen sie auf, William und Elisabeth samt der üblichen Gefolgschaft von Rittern und Knechten. William war, als befände er sich in einem Traum. Nicht er schien durch die Landschaft zu ziehen – die Landschaft schien an ihm vorüber zu gleiten. Elisabeth ritt neben ihm, wortlos und verwundet. Machten sie Rast, so war es Walter, der sich um alles kümmerte. Bei den Mahlzeiten aß William jedes Mal nur wenig, trank aber mehrere Becher Wein. In der Nacht schlief er unruhig.
Als sie sich durch grünende Felder Kingsbridge näherten, erblickten sie den Dom schon von Weitem. Die alte Kathedrale war ein geducktes, breitschultriges Gebäude gewesen, dessen kleine Fenster wie glänzende Äuglein unter rundbogigen Augenbrauen hervorlugten. Die neue Kirche sah, obwohl noch nicht fertig, völlig anders aus. Die Klostergebäude ringsum wirkten wie Zwerge.
Die Straße füllte sich allmählich mit zahlreichen Reitern und Fußgängern, die es gen Kingsbridge zog. Der Pfingstgottesdienst im Frühsommer, bei schönem Wetter und trockenen Straßen, war seit jeher beliebt.
Auf der letzten Meile gingen William und seine Gesellschaft in kurzen Galopp über, der unachtsame Fußgänger von der Straße vertrieb. Dann polterten sie über die hölzerne Zugbrücke, die den Fluss überspannte. Kingsbridge war mittlerweile eine der am stärksten befestigten Städte in ganz England. Eine dicke Steinmauer mit bezinnter Brustwehr umschloss den Ort, und dort, wo die Brücke einst kerzengerade auf die Hauptstraße zugeführt hatte, verstellte nun ein steinerner Wachturm den Weg, dessen ausladende, eisenbeschlagene Tore bei Einbruch der Nacht fest verschlossen und verriegelt wurden. Diese Stadt, dachte William, werde ich wohl nicht noch einmal niederbrennen können.
Die Leute gafften, als er mit seinem Gefolge die Hauptstraße entlang auf das Kloster zuritt. William war daran gewöhnt – er war der Graf, da gafften die Leute immer. Diesmal allerdings galt ihre Aufmerksamkeit auch der jungen Braut zu seiner Linken. Zu seiner Rechten ritt, wie üblich, Walter.
Im Klosterhof saßen sie ab. William überließ sein Pferd Walter und wandte sich der Kirche zu. Die Ostseite, also die Spitze des Kreuzes, lag auf der anderen Seite des Klosterhofs und blieb somit seinen Blicken verborgen. Das westliche (untere) Ende des Kreuzes stand noch nicht, doch seine Umrisse waren bereits mit Pflöcken und Schnur markiert. Auch waren die Fundamente teilweise schon gelegt. Dazwischen ragte das neue, in Nord-Süd-Richtung erbaute Querschiff – der Querbalken des Kreuzes – auf. Die Mitte zwischen Quer- und Hauptschiff bildete die Vierung. Die Fenster waren wahrhaftig so groß, wie sie aus der Ferne gewirkt hatten. Nie zuvor in seinem Leben hatte William einen solchen Bau gesehen.
»Die Kirche ist traumhaft schön«, sagte Elisabeth, die bislang in unterwürfigem Schweigen verharrt hatte.
William wünschte, er hätte sie zu Hause gelassen.
Beinahe ehrfürchtig schritt er zwischen den Pflöcken und Seilen über den Grundriss des Langhauses. Elisabeth tappte hinterher. Vom Mittelschiff stand erst ein Joch, und auch das nur in Teilen, doch sah es so aus, als trüge es den riesigen Spitzbogen, der den westlichen Eingang zur Vierung krönte. Kaum war William unter diesem unglaublichen Bogen hindurchgegangen, da befand er sich auch schon inmitten der Menschenmenge, die sich in der Vierung zusammendrängte.
Der neue Dom wirkte wie aus einer anderen Welt – er schien viel zu hoch, zu schlank, zu anmutig und zu zerbrechlich zu sein, um Bestand haben zu können. Nirgendwo schien es solide Mauern zu geben, die das Dach tragen konnten – statt dessen eine Reihe von biegsam wirkenden Pfeilern, die beredt gen Himmel strebten. William tat es den anderen nach: Er legte den Kopf in den Nacken und sah, dass sich die Pfeiler an der gewölbten Decke fortsetzten, um dort, wie die ineinandergreifenden Äste einer Gruppe hoher Ulmen im Wald, in der Mitte zusammenzulaufen.
Der Gottesdienst begann. Der Altar war an der Vorderseite des Chors errichtet worden. Die Mönche standen dahinter, sodass die Vierung sowie beide Arme des Querschiffs der Gemeinde vorbehalten blieben. Trotzdem fanden nicht alle Gläubigen Platz, sondern drängten sich auch auf dem Gelände des noch nicht erbauten Mittelschiffs. William kämpfte sich zum Altar
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