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Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth

Titel: Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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nicht verheiratet und ließ sich zu einer moralischen Verfehlung hinreißen. Ich nehme an, sie ist noch recht jung. Vielleicht ist es ihr gelungen, ihre Schwangerschaft geheim zu halten. Als ihre Zeit gekommen war, schlich sie sich in den Wald und errichtete sich ein großes Feuer. Dann gebar sie ohne Hilfe das Kind, überließ es den Wölfen und kehrte zurück. Sie hat gewiss Vorsorge getroffen, dass man sie nicht finden kann.«
    Der Säugling war eingeschlafen. Aus einer Eingebung heraus nahm Philip ihn Johnny ab, zog ihn an die Brust, stützte das Köpfchen mit der Hand und wiegte das kleine Bündel sanft hin und her. »Armes kleines Wesen«, sagte er, »armes, armes kleines Wesen.« Er war hingerissen von dem heftigen Verlangen, dem Kind Schutz und Pflege angedeihen zu lassen. Es entging ihm nicht, dass die Mönche ihn verdutzt anstarrten; derartige Zärtlichkeitsbekundungen waren sie von ihm nicht gewohnt. Selbstverständlich hatten sie ihn noch nie zuvor einen Menschen streicheln sehen, war doch jede Form der körperlichen Zuwendung im Kloster streng verboten. Sie hielten ihn schlichtweg solcher Anwandlungen für unfähig. Wohlan denn, dachte er bei sich, dann habe ich sie soeben eines Besseren belehrt.
    Da ergriff Peter von Wareham wieder das Wort: »Wir müssen das Kind nach Winchester bringen und ihm eine Pflegemutter suchen.«
    Wäre es nicht ausgerechnet Peter gewesen, der diese Worte gesprochen – Philips Widerspruch hätte möglicherweise auf sich warten lassen. Aber es war eben Peter – daher ging Philip sofort darauf ein, und von Stund an veränderte sich sein Leben. »Dieses Kind ist ein Geschenk Gottes.« Er blickte in die Runde. Mit weit geöffneten Augen sahen ihn die Mönche an und hingen an seinen Lippen. »Wir werden uns selbst um den Knaben kümmern«, fuhr Philip fort. »Wir werden ihn ernähren, ihn lehren und ihn in gottgefälliger Weise großziehen. Sobald er zum Mann gereift ist, wird er selbst die Gelübde ablegen. Auf diese Weise geben wir ihn dem Herrn zurück.«
    Es herrschte verwundertes Schweigen.
    Dann erhob jedoch Peter von Wareham seine zornige Stimme: »Das ist unmöglich!«, rief er. »Mönche taugen nicht dazu, Kinder aufzuziehen!«
    Philip fing einen Blick seines Bruders Francis auf, und die beiden lächelten sich in Erinnerung an gemeinsam Erlebtes an. Als Philip wieder sprach, war seine Stimme schwer vom Gewicht der Vergangenheit. »Unmöglich? Nein, Peter, im Gegenteil. Ich bin sicher, dass sie es können, und mein Bruder teilt meine Meinung. Wir haben da unsere eigenen Erfahrungen, nicht wahr, Francis?«
    An jenem Tag, den Philip seither insgeheim den »letzten Tag« nannte, war sein Vater schwer verletzt nach Hause gekommen.
    Philip hatte ihn zuerst gesehen. Sie lebten damals in einem kleinen Weiler im gebirgigen Norden von Wales, und sein Vater kam über den gewundenen Pfad an der Flanke des Berges ins Dorf geritten. Wie immer lief der Sechsjährige dem Vater entgegen. Doch anders als sonst hob der Vater seinen kleinen Jungen nicht aufs Pferd, um ihn das letzte Stück des Weges mitreiten zu lassen. Vielmehr saß er zusammengesunken im Sattel und hielt die Zügel in der rechten Hand, während der linke Arm schlaff herabbaumelte. Sein Gesicht war bleich, seine Kleider blutverschmiert. Philip empfand ebenso viel Neugier wie Furcht, denn er hatte seinen Vater noch nie schwach gesehen.
    »Hol deine Mutter!«, sagte Papa.
    Nachdem sie ihn glücklich ins Haus gebracht hatten, schnitt Mutter ihm das Hemd vom Leibe. Philip war entsetzt: Mehr noch als das viele Blut schockierte ihn die Tatsache, dass seine sonst so auf Sparsamkeit bedachte Mutter vorsätzlich die guten Kleider zerstörte. »Macht euch bloß keine Sorgen meinetwegen«, hatte Papa gesagt, doch seine gemeinhin raue Stimme war nur mehr ein schwaches Gemurmel, dem obendrein niemand Beachtung schenkte – eine weitere erschreckende Erkenntnis für den kleinen Philip, denn Vaters Wort war stets Gesetz gewesen. »Lasst mich in Ruhe, und bringt die anderen alle ins Kloster«, fuhr Papa fort. »Die verdammten Engländer werden gleich hier sein.« Das Kloster, zu dem auch eine Kirche gehörte, lag hoch oben auf dem Berg. Philip begriff nicht, wieso sie dort hinaufsteigen sollten, obgleich es doch gar nicht Sonntag war. Mama erwiderte: »Wenn du noch mehr Blut verlierst, wirst du niemals mehr irgendwohin gehen können.« Tante Gwen indes sagte, sie wolle Alarm schlagen, und verließ das Haus.
    Wenn Philip in späteren

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