Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
Jahren über die nun folgenden Ereignisse nachdachte, war ihm klar, dass er und sein vierjähriger Bruder Francis in der damaligen Aufregung schlicht vergessen worden waren. Niemand dachte daran, die beiden in Sicherheit zu bringen. Die Leute kümmerten sich um ihre eigenen Kinder und nahmen an, Philip und Francis seien bei ihren Eltern gut aufgehoben – doch Papa verblutete, und Mama versuchte, ihn zu retten, und so kam es, dass die Engländer sie alle vier erwischten.
Nichts in Philips kurzem Leben hatte ihn auf den Anblick der zwei Bewaffneten vorbereitet, die unvermittelt die Tür einschlugen und in sein nur aus einem großen Raum bestehendes Elternhaus eindrangen. Unter anderen Umständen hätte er vor den beiden gar keine Angst gehabt, denn es handelte sich um stämmige und etwas linkische Halbwüchsige, wie es sie überall gibt. Burschen ihres Schlages pflegten gemeinhin alte Frauen zu verspotten, Juden zu misshandeln und sich um Mitternacht vor den Schenken in Raufhändel einzulassen. Doch die beiden, die an jenem Tag ins Haus stürmten, waren (wie Philip erst viele Jahre später einsah, als er endlich vernünftig darüber nachdenken konnte) vom Blutrausch wie besessen. Sie hatten gerade eine Schlacht hinter sich, die Schreie der Sterbenden klangen ihnen noch in den Ohren, Kameraden waren neben ihnen gefallen, und sie selbst hatten vor Angst buchstäblich den Verstand verloren. Immerhin, die Schlacht war siegreich beendet worden; sie hatten überlebt und hetzten nun die in die Flucht geschlagenen Feinde. Es gab nur eines, was ihre Gier befriedigen konnte, und das war Blut, immer mehr Blut, das waren noch mehr Todesschreie, noch mehr Wunden und noch mehr Sterbende … und all das war ihren verzerrten Gesichtern anzusehen, als sie zur Tür hereinstürmten wie Füchse in einen Hühnerstall.
Es ging alles sehr schnell, obwohl Philip sich später an jeden einzelnen ihrer Schritte erinnern konnte, als hätte es sehr lange gedauert. Die beiden Männer trugen nur leichte Rüstung – ein kurzes Kettenhemd und mit Eisenbändern verstärkte Lederhelme. Sie hatten die Schwerter gezückt. Der eine war hässlich, hatte eine große, gebogene Nase, schielte und bleckte die Zähne, sodass sein Gesicht einer grinsenden Fratze glich. Der andere hatte einen üppigen, ganz mit Blut verklebten Bart; da er selbst jedoch allem Anschein nach unverletzt war, musste das Blut von jemand anderem stammen. Ihre gnadenlosen, berechnenden Augen erfassten sofort, worauf es ankam. Sie taten Philip und Francis als unbedeutend ab, nahmen von Mama kaum Notiz und gingen, noch ehe die Familie sich rühren konnte, auch schon auf Vater los.
Mama hatte sich gerade über den Verwundeten gebeugt und seinen linken Arm verbunden. Sie richtete sich auf und trat den Angreifern entgegen; in ihren Augen funkelte der Mut der Verzweiflung. Papa sprang auf, seine unversehrte rechte Hand fuhr an den Schwertknauf. Philip stieß einen Entsetzensschrei aus.
Der hässliche Mann hob sein Schwert, ließ es mit dem Knauf voran auf Mamas Kopf niedersausen und drängte sie beiseite, ohne zuzustechen. Wahrscheinlich wollte er, solange Papa noch lebte, nicht riskieren, dass seine Waffe in einem anderen Körper stecken blieb – so jedenfalls erklärte sich Philip Jahre später das Verhalten des Mannes. Der kleine Philip rannte damals bloß zu seiner Mutter, ohne zu begreifen, dass sie ihn nicht mehr schützen konnte. Mama taumelte. Der hässliche Mann kümmerte sich nicht mehr um sie und holte zum nächsten Hieb aus. Philip klammerte sich an Mamas Rocksaum und starrte wie gebannt auf seinen Vater.
Papa war es gelungen, sein Schwert aus der Scheide zu ziehen. Es klang wie ein Glockenschlag, als die Klingen aufeinanderschlugen und Vater den ersten Hieb parierte. Wie alle kleinen Jungen hielt Philip seinen Vater für unbezwingbar, doch jetzt war die Stunde der Wahrheit gekommen. Der Blutverlust hatte den Vater geschwächt, und schon bei der Abwehr des ersten Schlages fiel ihm das Schwert aus der Hand. Der Angreifer holte nur kurz aus und schlug sofort wieder zu. Der Hieb traf Papa genau dort, wo die kräftigen Halsmuskeln in den Schultergürtel übergingen. Als Philip sah, wie die scharfe Schneide in Vaters Fleisch fuhr, begann er zu schreien. Der hässliche Mann zog das Schwert zurück und stieß es Philips Vater tief in den Bauch.
Vor Entsetzen wie gelähmt, sah Philip zu seiner Mutter auf. Ihre Blicke trafen sich just in dem Augenblick, als der Bärtige Mama
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