Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
trat über die breite Türschwelle hinauf auf eine Steinplatte.
Sie blinzelte in die Sonne, die ganz dicht über dem Horizont stand. Sie hatte nicht gemerkt, dass die Sonne noch nicht untergegangen war, so viel Licht ließ die Fensterscheibe dann doch nicht ein. Nun konnte sie allmählich den Hofplatz erkennen, der von einer dünnen weißen Schneedecke überzogen war. Dunkle Häuser standen um den Hofplatz, ein großes Haupthaus neben ihr und ein nahezu prunkvoll verziertes Gebäude dahinter, mit Dachboden, Laubengang und hübschen Schnitzereien.
Kein Mensch war zu sehen. Nach der Wärme in der Stube fröstelte Silje. Dann hob sie den Blick.
Und alles Blut schien aus ihrem Herzen zu verschwinden.
»Oh lieber Gott,
nein\«,
stöhnte sie.
Sie hielt sich am Türpfosten fest, um sich abzustützen. Dann schaute sie noch einmal vorsichtig auf.
Über die Hausdächer ragten sie hinweg, die höchsten von ihnen. Es gab aber eine Lücke zwischen den Häusern, dort, wo der Weg hinauf zum Haus führte. Und dahinter... dahinter erhob sich in aufdringlicher Nähe das Gebirge. Sie erkannte jeden einzelnen Gipfel, jedes Tal und jede Kluft wieder.
Das »Schattenland«, das »Abendland«.
Sie war der Bedrohung ihrer Kindheit, den unheimlichen, geheimnisumwitterten Wohnstätten des Eisvolkes, ein großes Stück näher gekommen. Sie befand sich fast unmittelbar am Gebirge. Nur eine weite Geröllhalde trennte sie davon. Und wie zum Hohn Gottes erhob sich hinter der Geröllhalde scheinbar bis in den Himmel hinauf steil die uneinnehmbare Felswand.
Ich muss weg von hier!, war ihr erster Gedanke.
Dann aber besann sie sich. Sie war kein Kind mehr.
All ihre Fantasien über Dämonen, die durch die Lüfte gesegelt kamen, waren ja nichts weiter als Fantasien. Sie selbst war diejenige, die sie heraufbeschwor, sie existierten in Wirklichkeit gar nicht. Und was das Gemunkel der Leute über das Eisvolk anbetraf, ja, das diente allein dazu, Silje vom Gebirge fernzuhalten. Sie hatte dort auch gar nichts zu suchen, gar nichts. Wollte sie wirklich den einzigen Unterschlupf verlassen, den sie auf ihrer Wanderung gefunden hatte, nur wegen solch alberner Vorstellungen?
Eine der alten Frauen kam aus dem Hauptgebäude und winkte ihr zu. Ohne weiter auf die blauschwarze, schneebedeckte Felswand zu achten, humpelte sie über den Hofplatz und ging ins Haus.
»Komm rein«, sagte die Frau freundlich. »Wir sitzen in der Küche und essen. Arme Kleine, du hast sicher Hunger?«
»Ja, aber kann ich mich erst waschen und zurechtmachen?«
Das durfte sie, und dann betrat sie eine große, gemütliche Küche mit einer riesengroßen Feuerstelle und einem langen Tisch, an dem alle Bediensteten des Hofes saßen und aßen. Sie grüßte schüchtern und verneigte sich höflich vor jedem Einzelnen.
Es waren nicht viele. Die Pest muss hier schwer gewütet haben, dachte sie bei sich. Da war Benedikt selber im Hochsitz, die beiden Frauen, jede mit einem Kind, und dann war da noch der Knecht.
Mehr waren sie nicht.
Die Frauen mussten Schwestern sein, so sehr ähnelten sie einander. Sie trugen schwarze Kleider, die ihnen bis auf die Füße reichten, und lächelten die ganze Zeit. Es war offensichtlich, dass sie ihren Anteil daran hatten, dass es allen wohl erging. Silje fühlte, dass sie sie sehr gern haben würde.
Zu ihrer Freude sah sie, dass der Säugling Dag allmählich etwas Nahrung zu sich nahm. Er bekam klein geschnittene Stücke Brot in Milch getunkt, an denen er lächelnd saugte. Die kleine Sol begrüßte sie mit einem Lächeln des Wiedererkennens und drehte sich dann schnell wieder zum Knecht um, der mit ihr spielte, dass sie vor Lachen juchzte.
»Komm rein, mein liebes Mädchen«, sagte Benedikt freundlich. »Setz dich her zu mir!«
Sie bedankte und verneigte sich erneut, sprach leise ein Tischgebet und nahm Platz. Anscheinend hielt sich der Maler an einfache Sitten – das Abendessen bestand aus nur drei Gerichten – aus Pökelfleisch, Fleisch und Speck und aus Kohl. Große Krüge mit Bier standen auch auf dem Tisch.
Das war keinesfalls zu vergleichen mit dem durchschnittlichen Nahrungsmittelverbrauch auf dem Lande. Bei Bauern waren sechs Gerichte das Mindeste, und die wahrhaft Reichen pflegten bei einer Mahlzeit mit bis zu vierzehn Gerichten aufzuwarten. Sechs Krüge Bier am Tag waren für einen Erwachsenen das normale Quantum, aber auch doppelt so viel war nichts Ungewöhnliches.
Für Silje jedoch war der Tisch eine Offenbarung. Während sie sich
Weitere Kostenlose Bücher