Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
gütlich tat, warf sie einen Blick auf die Kinder.
»Jetzt sehe ich sie zum ersten Mal bei Tageslicht«, sagte sie schüchtern. »Wie hübsch sie sind, alle beide! Aber so ungleich!«
»Das kleine Mädchen ist ein richtiger Wildfang«, sagte die eine Frau. »Was für ein Temperament! In einem Augenblick kann sie glücklich strahlen, aber wenn ihr etwas nicht gefällt, tobt sie vor Wut.«
Silje nickte. »Davon habe ich gestern Abend auch schon etwas zu spüren bekommen.«
»Die Jungen werden sich um sie reißen, wenn sie größer ist«, brummte Benedikt. »Mit diesen grünen Augen und den schwarzen Locken.«
Wenn sie dann überhaupt noch lebt, dachte Silje betrübt. Das wird sich in den nächsten Tagen entscheiden. Wieder hatte sie die tote Mutter vor Augen.
»Ich finde, der Junge hat für ein Neugeborenes ungewöhnlich schöne Gesichtszüge, nicht wahr?« Sie versuchte, die trüben Gedanken zu zerstreuen. Sie betrachtete das kleine Gesicht und den hellen Haarflaum auf seinem Kopf.
»Ja«, sagte Benedikt. »Da kann man sich nur fragen, woher
er
stammt. Ja, dir sind wahrscheinlich schon die Decken aufgefallen, in die er eingewickelt war?«
»Ja, als wir gestern Abend ins Licht kamen, habe ich sie gesehen. Das ist merkwürdig.«
»Skandale kommen auch in den besten Familien vor«, murmelte er.
»Ich bin gebeten worden, auf die Decken gut Acht zu geben.«
Benedikt nickte. Sein faltiges Gesicht war ernst.
»Das musst du unbedingt. Aber war wirklich der junge Heming so vorausschauend?«
Ach, dass sie immer rot werden und Herzklopfen bekommen musste, sobald der Name Heming fiel! In Wahrheit aber sehnte sie sich fürchterlich danach, sein anziehendes Gesicht wiederzusehen.
»Nein, das war ein anderer«, antwortete sie verwirrt.
»Ein sonderbarer Mensch... beinahe ein Menschentier. Aber ich empfinde ihm gegenüber große Dankbarkeit. Er hatte mich zu euch geschickt – und wenn wir schon davon reden, dann möchte ich euch allen danken für die Freundlichkeit, die ihr mir erwiesen habt. Ihr habt die Kinder und mich ohne irgendwelche Einwände aufgenommen. Und das auf so freundliche Weise!«
»Solchem Ersuchen kommt man gerne nach«, murmelte der Maler. Etwas an seiner Haltung verriet Silje, dass er keine weiteren Fragen wünschte. Er sagte dann auch schnell: »Ich nehme an, dass nicht Heming so vernünftig gewesen ist. Aber, Silje, was machen wir jetzt mit dir? Wie du siehst, sind hier nicht mehr so viele übrig. Und wir könnten noch eine Hand gebrauchen. Wenn du dich mit Verpflegung und Unterkunft zufriedengeben willst?«
»Ja, vielen Dank«, antwortete sie und schaute hinunter auf den Teller. »Ich werde diesmal versuchen, mich auf die Arbeit zu konzentrieren.«
»Und nicht zu träumen?«, lachte Benedikt. »Wir Menschen müssen träumen dürfen, Silje. Und Leute wie du und ich mehr als andere. Sieh mal, alle, die in diesem Haus gewohnt haben, sind tot. Es war mein Bruder mit seiner Familie. Ich bitte dich, keine Fragen über sie zu stellen – es ist allzu traurig für uns, wir möchten gar nicht darüber reden. Aber wir anderen müssen ja schließlich weiterleben.«
Sie nickte. »Ich habe vor Kurzem das Gleiche erlebt, deshalb verstehe ich es, glaube ich. Wir alle haben unsere Toten.«
Die Bediensteten nickten ihr zu.
»Ich selbst wohne in dem verzierten Haus hier nebenan«, fuhr Benedikt fort, »und beteilige mich nicht an den Arbeiten auf dem Hof.«
Er war ungeheuer stolz auf seinen Beruf.
»Aber du trinkst so wenig«, sagte er. »Bier haben wir genug. Wenn du statt sechs lieber sieben Krüge haben willst, ist dagegen nichts einzuwenden.«
»Oh nein, vielen Dank, ich schaffe kaum drei pro Tag!«
»Was bist du nur für ein Hühnchen? Du trinkst Bier wie ein Vogel, was? Aber ich bin ganz deiner Ansicht. Ich selbst trinke, wie du siehst, nur Wein. Ein Getränk, wie es eines Künstlers würdig ist.«
Silje saß mit dem Gesicht zu einem Fenster, das hier im Hauptgebäude von besserer Qualität war. Die ganze Zeit hatte sie vermieden, aus dem Fenster zu sehen, jetzt endlich hatte sie den Mut. Sie fühlte sich durch den freundlichen Ton des Malers dazu ermuntert.
»Die Berge dort... Ich wäre fast zu Stein erstarrt, als ich merkte, dass sie so nahe sind.«
Ihre mutige Stimmung hielt an, und so erzählte sie, wie viel Angst sie als Kind vor den Bergen gehabt habe, dass sie lange nordöstlich davon gelebt, aber ihren Anblick gleichwohl gefürchtet habe. Sie machte nur eine knappe Andeutung über die
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