Die Saga vom Eisvolk 02 - Hexenjagd
daran, diesen Ort zu verlassen, bevor der Vogt herkommt und die beiden Todesfälle genauer untersucht. Und Ihr, Euer Gnaden, solltet vielleicht versuchen, Euch etwas schlichter zu kleiden, damit wir nicht noch mehr Gesindel dieses Schlages auf uns aufmerksam machen.«
Das verstand Charlotte.
Tengel und Silje standen an der Auffahrt zu ihrem neuen Heim und betrachteten es sprachlos. Rechts von ihnen, etwa eine Viertelmeile entfernt, lag Charlotte von Meidens Mitgift, Grästensholm, ein großes Anwesen aus Stein und Holz, mit Glockenturm und wehender Flagge.
Charlotte hatte sich bereits auf den Weg dorthin begeben.
Aber ihr eigenes Haus. ..
»Tengel«, sagte Silje tonlos. »Ich hatte gedacht, ihr Haus wäre ein Herrenhof und unseres eine einfache Kate. Aber Charlottes Haus ist ja ein Schloß! Und das hier ist ein Herrenhof! Sollen wir wirklich hier wohnen?«
»Sieht ganz so aus«, sagte er matt.
Es war nicht ganz so prächtig, wie es Silje mit ihren geringen Ansprüchen erschien. Grästensholm war ein Gutshof, ein recht unschöner obendrein mit seinen hohen, kompakten Aufbauten, und was Silje einen Herrenhof nannte, war ein langgestrecktes Haus mit Nebengebäuden zu beiden Seiten und einem schönen Grasplatz in der Mitte. Der Giebelhöhe nach zu urteilen war das Haus zweistöckig.
Aber für sie war das ganze ein Märchen.
»Tengel«, sagte Silje mit erstickter Stimme und griff nach seiner Hand. »Oh, Tengel!«
»Wir werden alles tun, um das Anwesen perfekt für sie zu verwalten«, sagte er andächtig.
Die Kinder starrten auf das Gebäude. »Sollen wir hier wohnen?« sagte Sol.
»Ja. Falls wir uns gut benehmen und unsere Arbeit tun, können wir hier viele Jahre wohnen, Kinder.«
»Dann benehmen wir uns anständig, nicht wahr, Dag und Liv?«
»Ja«, sagten die beiden Jüngeren wie aus einem Mund.
Als sie ins Haus kamen, ging Silje von Raum zu Raum.
Das Haus war nur teilweise möbliert - es gab nur eingebaute Möbel, Betten, Schränke und Bänke.
»Ich kann zimmern«, sagte Tengel eifrig. »Und Silje!
Siehst du die Wand dort? Da ist jetzt nur eine Öffnung mit einer Holzluke. Glaubst du, sie ist groß genug für… ?«
»Für Benedikts. Fenster?« jubelte Silje, »Das paßt bestimmt perfekt, Tengel! Wenn die Sonne dort drüben steht, wird ihr Licht ganz wunderbar durch das Mosaikglas scheinen. Aber wir müssen erst um Erlaubnis bitten. Oh Tengel, kneif mich in den Arm!«
So glücklich hatte er sie seit vielen Monaten nicht mehr erlebt.
Sie waren mitten am Tag angekommen, und der ganze Nachmittag wurde dafür verwendet, Pläne zu machen, jeden Winkel zu bewundern und das wenige auszupacken, das sie dabei hatten. Der Rest würde mit dem Schiff nachkommen.
Aber als Silje dabei war, ihre erste Mahlzeit im neuen Heim zuzubereiten, ging Tengel für sich allein in ein Zimmer. Hier blieb er eine Weile nachdenklich stehen, während er den Kindern lauschte, die glücklich in dem ungewohnt großen Haus herumliefen. Ihre Stimmen hallten durch die halbleeren Räume, und ihre Schritte trappelten auf den Holzfußböden.
Dann nahm er seine »Sachen« hervor, wie Silje sie zu nennen pflegte. Er wühlte zwischen kleinen Schachteln und Lederbeuteln, und schließlich fand er, was er gesucht hatte. Lange stand er da und wog das Kästchen in der Hand. Jetzt, unmittelbar nach der Reise, war zweifellos der beste Zeitpunkt. Wenn es ihm gelang, etwas von dem Pulver unter ihr Essen zu schmuggeln… Sie würde annehmen, daß die strapaziöse Reise die Ursache dafür war, daß sie das Kind verloren hatte.
Es schnitt Tengel ins Herz, so etwas zu tun. Er wollte wirklich gerne noch ein Kind, aber er wagte es nicht. Die Verantwortung war zu groß. Wenn er jetzt nicht handelte, würde Silje wahrscheinlich sterben, und er selbst würde ein Ungeheuer aufziehen müssen, das ebenso unglücklich werden würde, wie er selbst es in all den einsamen Jahren gewesen war. Vielleicht sogar noch schlimmer, denn er war dem bösen Erbe noch ziemlich leicht entgangen.
Aber Silje würde seinen Entschluß nicht verstehen. Sie würde über das verlorene Kind trauern, obwohl sie niemals erfahren würde, daß er es gewesen war, der…
Er runzelte die Stirn. Er war nicht allein. Jemand beobachtete ihn.
Es überraschte ihn nicht, daß es Sol war, die gegen den Türrahmen gelehnt stand und ihn betrachtete. Sie hatten einen merkwürdigen Kontakt, seine Nichte und er, obwohl er spürte, daß sie über viel stärkere Kräfte verfügte, als er sie jemals
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