Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
Verschwunden, in den Erdboden versunken und dann von Gras überwachsen und später mit Häusern überbaut. Einige neue Häuser hatten sich bereits in der Nähe innerhalb der Ruinengrenze breitgemacht. In hundert Jahren würde niemand mehr auch nur ahnen, was sich unter den Häusern befunden hatte.
Windschiefe Bäume verbargen den Eingang. Sol kletterte zwischen Mauern hinunter, die mit Moos und Gras bewachsen waren. Sie fand eine Türöffnung, wo offenbar irgendwann einmal ein Kind gespielt hatte, denn dort lag ein zerbrochenes, primitives Steckenpferd.
Sie trat in ein Netzwerk aus Ruinen ein. Sol jedoch blieb nur einen Augenblick lang stehen, um die Atmosphäre in sich aufzunehmen, dann steuerte sie ohne Zögern in eine bestimmte Richtung. Sie mußte über heruntergefallene Steine klettern, die den Weg für Regenpfützen unter großen Löchern im Dach freigaben.
Schließlich gelangte sie in einen kryptaähnlichen Raum. Die Atmosphäre war durch die vergangenen Leiden der Toten bedrückend.
Dies war das Verlies.
Der Mond schien durch eine Öffnung im Dach. Sol setzte sich auf einen grasbewachsenen Hügel mitten im Raum - direkt unter der Öffnung. drüben in den Ecken konnte sie schemenhaft etwas Weißes erkennen, sicher Knochen eines der Toten. Hier hinein kam doch niemand, jedenfalls kein Kind.
Sie saß mit geschlossenen Augen ganz reglos da. Nach einer Weile konnte sie die Stimmen der Toten empfangen - wie ein wispernder Chor aus vergangenen Jahrhunderten. Ob es ihre eigene Phantasie war, die das alles hervorrief, oder ob sie die Stimmen tatsächlich hörte, war ihr vollkommen gleichgültig. Für sie waren sie genauso wirklich.
Sol antwortete, sprach beruhigend auf sie ein. Eine unsichtbare Gestalt schien sich neben sie gesetzt zu haben, und sie spürte, daß sie mit all den Unglückseligen eins war. Sol verstand sie, sie verstanden Sol. Da konnten sie Ausgeburten ihrer Phantasie sein, so viel sie nur wollten. »Ich bin einsam«, flüsterte sie. »So schrecklich einsam in der Welt der Phantasielosen. Es ist schön, wunderschön bei euch zu sein. Bei euch, die ihr schon eine andere Welt kennt.«
Einer nach dem anderen wuchsen sie aus dem Dunkel hervor, Schatten von Menschen, die vor langer Zeit zu Tode gepeinigt. worden waren, all die, die empfängliche Menschen manchmal erahnen können, wie einen Schatten, ein kurzes Aufblitzen aus dem äußersten Augenwinkel. Dies war Sols Welt, hier fühlte sie sich zugehörig. Sie sah sie, konnte die Hoffnungslosigkeit ahnen, die sie einmal empfunden haben mußten, als sie in diesem Verlies geschmachtet hatten, die Gewißheit, daß es keine Rettung gab - daß das Ende, dem sie ins Auge schauen mußten, ein langsamer und schmerzvoller Tod sein würde. Plötzlich verschwanden alle Gestalten. Im Gang draußen hörte sie schwere Schritte. Jacob Skille stand in der Tür. »Hier bist du?« sagte er steif.
Sol zögerte nur einen Augenblick, bis sie eine rettende Erklärung fand. »Ja, ich habe gehört, daß du mir gefolgt bist. Deshalb bin ich hierher gegangen, wo ich sicher sein kann, daß wir ungestört sind.«
Er war für die Stimmung im Raum nicht empfänglich. »Ja. Hierher kommt niemand.«
Sie liebten sich dort im Dunkel des Mondes. Verzweifelt und erfinderisch. Sol gab alles weiter, was sie auf ihrem Ritt zum Blocksberg gelernt hatte, und Jacob war mehr als willig, zu lernen. Sie spürte, wie er sich seiner selbst als Liebhaber immer sicherer wurde.
Er erfuhr natürlich nicht, woher all diese Künste stammten, er glaubte, er sei derjenige, der sie ermunterte, sich selbst zu übertreffen.
Er tat alles, worum sie ihn bat, und sie erlebten eine wunderbare halbe Stunde. Ohne zu wissen, daß er umgeben von Gebeinen Toter eine Frau liebte.
Sol jedoch kehrte verzweifelt mit ihm zum Nachtquartier zurück. Sie fluchte in stiller Wut, weinte ohne Tränen. Das war nichts mehr für sie. Weltliche Erotik konnte sie nicht mehr wirklich entflammen. Dazu brauchte es sehr viel stärkere Reize.
9. KAPITEL
Am nächsten Morgen ließen Meta und Sol einen traurigen Jacob Skille am Kai zurück. Die Überfahrt war ziemlich beschwerlich, dennoch liefen sie ihren Zielhafen einen Tag früher als mit Dag abgesprochen an. Sie erreichten Oslo am Vormittag.
Sol kehrte in einen Gasthof ein und brachte die recht erschöpfte Meta dort unter. Das Mädchen war zwar nicht seekrank gewesen, doch sie hatte während der ganzen Reise kein Auge zugetan. Die Seereise mit einer kleinen Nußschale von
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