Die Saga vom Eisvolk 03 - Abgrund
bedrückt. »Es ist gar nicht so schlimm. Ich habe ein bißchen übertrieben.«
»Übertrieben?« rief Sol aus. »Sieh dir ihre Arme an, Dag! Und dann die Schwiegermutter! Ja, du hast deine Lektion wirklich gut gelernt.«
»Wir müssen nach Hause«, entschied Dag barsch. »Tengel, Silje und Charlotte müssen das erfahren. Liv, du kommst mit »Nein, nein«, bat sie verzweifelt, »das kann ich nicht!«
»Doch«, sagte Dag. »Ich werde uns sofort eine Kutsche besorgen. Bist du zur Abreise bereit, Sol?«
»Nein, ich muß noch meine Kleider… Oh, Gott, nun habe ich Meta wieder vergessen!«
»Meta?« sagte die beiden anderen wie aus einem Mund. »Ja, sie hat selbst schuld, sie ist wie geschaffen dafür, vergessen zu werden«, sagte Sol reuevoll. Und dann erzählte sie ihnen von Meta.
Dag schüttelte den Kopf. »Du bist ein seltsamer Mensch, Sol.
Ich habe dich die gefährlichsten Dinge mit eiskaltem Herzen machen sehen - mit Tengels Patienten. Beine absägen, ohne auf das Jammergeschrei zu achten, stinkende Wunden öffnen, verrottete Körper zusammenflicken, ohne auch nur eine Miene zu verziehen - und nun kann ein kleines Mädchen dich dazu bringen, zu einer Heldin zu werden. Aber selbstverständlich müssen wir die arme Kleine mit nach Lindenallee oder Grästensholm nehmen! Du hast das einzig richtige gemacht.«
»Natürlich! Aber Liv hat recht, sie sollte jetzt noch nicht zu uns nach Hause fahren, das würde ihren Mann zu sehr provozieren. Wir wollen keine zu Tode gepeitschte Schwester haben.«
»Aber ich würde gern um eine Unterredung mit diesem Mann bitten«, sagte Dag verbissen.
»Nein, das ist das Schlimmste, was du tun kannst«, sagte Sol. »Laß mich die Sache regeln! Liv, du gehst schleunigst nach Hause, bevor jemand kommt, wir sind ja schon fast da. Du, Dag, besorgst eine Kutsche nach Lindenallee, und ich hole die unglückselige Meta. Das Wirtshaus, in dem sie wartet, ist sehr weit von hier.«
Das letzte war gelogen. Das Wirtshaus lag um die Ecke, Sol jedoch hatte noch andere Pläne.
»Dann treffen wir beide uns am Stadttor, Dag, und dann habe ich das kleine Häuflein Elend bei mir.« »Welches kleines Häuflein Elend?«
»Meta, natürlich. Und Liv, du verhältst dich ruhig, bis wir, mit unseren Eltern gesprochen haben! Sei lieb und folgsam wie ein Lamm! Bis bald!«
Sie eilte davon, und war bald außer Sichtweite.
Liv und Dag gingen langsam die Straßen entlang. Sie zogen nahezu die Beine nach, um den Weg so lang wie möglich auszudehnen. Liv vergaß ganz, daß sie sich beeilen sollte. »Vater und Mutter können nicht viel tun«, sagte er leise. »Nein. Ihm muß aber eine Lektion erteilt werden.« Liv seufzte. »Dann werde ich zuguterletzt die Leidtragende sein.« »Ja, das befürchte ich auch.«
Unbewußt hatten sie einander bei der Hand genommen, wie in alten Tagen. Dag erzählte von seinem Leben in Kopenhagen, und er bemühte sich, den munteren Plauderton beizubehalten. Doch in seiner Brust raste eine dumpfe, hilflose Verzweiflung. Ein Ehemann hatte alles Recht auf seiner Seite. Liv, die kleine Schwester, die Dag die ganze Kindheit hindurch gefolgt war wie ein bewundernder Schatten - sollte von allen Menschen ausgerechnet sie für den Rest ihres Lebens leiden?
Zugleich hatte er das unerklärliche Gefühl, daß er sich selbst an ihr schuldig gemacht hatte.
»Wo hat er sein Kontor?« fragte er nach einer Weile des Schweigens.
Liv blieb stehen. »Nein, du darfst da nicht hinaufgehen, Dag, du darfst nicht!«
»Aber ich würde ihm so gern ganz gehörig die Meinung sagen. Oder um ganz ehrlich zu sein - ihn zusammenschlagen.«
»Dag, ich bitte dich!«
Er legte seine Hände um ihr Gesicht. »Nein, ich werde es nicht tun«, versprach er. »Wir wollen hören, was Sol sich überlegt hat, sie ist ganz erfinderisch«, sagte Dag naiv. Lange schaute er Liv in die Augen, und als sie sich verabschiedeten lag Trauer in ihren Gesichtern. Er versprach, daß sie bald etwas von zu Hause hören würde, und damit trennten sie sich.
Sie schaute ihm solange nach, bis er ganz ihren Blicken entschwunden war. Erst dann kehrte sie zu ihrem feinen Haus zurück, durch das Treffen mit ihren Geschwistern zu neuem Leben erweckt, doch zugleich voller Todesangst vor den Bestrafungen, die erfolgen würden, wenn ihr Mann erfuhr, daß sie außer Haus gewesen war.
Sol reagierte schnell. Sie ergatterte die eleganteste Pferdekutsche von ganz Oslo und bat den Kutscher, zu Samuelsens Haus zu fahren. Während sie im Wagen saß,
Weitere Kostenlose Bücher