Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
zusammengesunken und eine alte Frau geworden, aber immer noch hatte sie den gutmütigen Schimmer in den Augen, und sie schien sehr glücklich mit ihrem Jacob zu sein. Er seinerseits hatte sich auf Grästensholm gut zurechtgefunden, und eigentlich war Jacob es, der den Gutshof bewirtschaftete. Obwohl er wußte, daß sein Stiefsohn Dag eines Tages alles erben würde, war er zufrieden damit, abends am Kamin zu sitzen und mit Charlotte Karten zu spielen. Auf jeden Fall war er der »Schloßherr«, so lange er lebte. Und das war mehr, als sich ein armer Dragoner jemals hätte träumen lassen.
Es war eine große, glückliche Familie, die sich in dem Saal auf Lindenallee versammelte.
Man schrieb das Jahr 1620. Weit im Süden, in Böhmen, hatten die Kriegstrommeln zu schlagen begonnen, und der Kampf zwischen Katholiken und Protestanten war bereits in vollem Gange. Es sollte ein Krieg werden, der seine langen, bedrohlichen Finger bis hinauf in das kleine Norwegen ausstreckte, und sogar auf das Kirchspiel Grästensholm würde sein Schatten fallen. Aber derlei Dinge konnte Silje nicht wissen, und sie dachte auch nicht an Krieg, als sie die Augen über ihre große Familie schweifen ließ.
Ach, was sind das für schöne Jahre gewesen, dachte sie, wie sie dort an ihrem Ehrenplatz an der Tafel saß. Welch wunderbare Jahre! Konnte irgend ein anderer Mensch so glücklich sein, wie sie es war?
Yrja war nicht ganz so glücklich. Was sie auch anstellte, es gelang ihr nicht, Taralds Aufmerksamkeit zu gewinnen. Es war so überdeutlich, wem sein größtes Interesse galt. Die bezaubernde Sunniva hatte ihre Augen niedergeschlagen und wagte nicht, ihren Cousin Tarald anzusehen. Aber Yrja, durch ihre Verliebtheit besonders empfindsam geworden, hatte keine Mühe, das Knistern zwischen den beiden zu spüren, das in der Luft lag. Und sie hatte ein Gefühl, als ob ihr das Herz ausblutete, still und unbemerkt.
Aber was hatte sie denn anderes erwarten können? Wenn es nur nicht so schrecklich weh täte!
Vermutlich war es ein besonders gelungenes Geburtstagsfest. Zwischen der klugen Cecilie und dem Scharfgeist Tarjei flogen die gewitzten Bemerkungen nur so hin und her. Die beiden verstehen sich durch und durch, dachte Yrja. Trond war neunmalklug und gab sich Mühe mitzuhalten, ohne jedoch ihr Niveau zu erreichen, und die vier Erwachsenen der älteren Generation waren in eine Unterhaltung vertieft, deren Einzelheiten sie nicht verstand. Brand, der schwerfällige und langsame Brand, schaufelte Kuchen in sich hinein, bis Meta ihm auf die Finger schlug. Und die drei Gleichaltrigen, Dag, Liv und Are, diskutierten über irgendeine Grenzstreitigkeit in der Nachbarschaft.
Yrja fühlte sich vollkommen überflüssig, obwohl alle sie wie eine der Ihren behandelten, und genauso wie ein Geburtstagskind. Aber das Gefühl von Einsamkeit kam ja auch nur von der nagenden Verzweiflung in ihrem eigenen dummen Herzen.
Ein Herz, das sich weigerte, Vernunft anzunehmen und ein Niederlage zu akzeptieren, die vorherbestimmt war. Sie glaubte, daß alle ihre Nachteile jedem in die Augen stechen müßten - die schiefen Schultern, die fehlende Taille, die knochigen Hände… die auch noch schweißnaß waren. Sicher hatte sie jetzt eine rote Nase, die hatte sie immer, wenn sie mit anderen zusammen war. Rote Nase und rotes Kinn… und die Wangen voller feuerroter, häßlicher Flecken. Wie Distelblüten eben, dachte sie bissig.
Aber trotzdem empfand sie keine Eifersucht auf die entzückende Sunniva. Sunniva war so hilflos und rief bei allen nur die besten Gefühle hervor, besonders bei der warmherzigen Yrja. Die Mutter so früh zu verlieren, und unter so schrecklichen Umständen! Yrja hatte genau gehört, wie daheim auf Eikeby darüber getuschelt wurde, aber sie hatte die Wahrheit nie erfahren. Vielleicht kam es daher, daß niemand im Dorf richtig wußte, was eigentlich vorgefallen war.
Plötzlich ergriff Tengel das Wort, und das Stimmengewirr verstummte.
»Da wir nun alle hier versammelt sind, möchte ich etwas mit euch besprechen. Etwas, worüber ich lange nachgedacht habe. Wir brauchen einen richtigen Familiennamen.« »Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht«, sagte Are. »Ich heiße ja einfach Tengelssohn, und es ist nicht genug, den Namen des Vaters auf die Söhne zu vererben. Tarjei Aressohn, Trond und Brand Aressohn …«
Tengel nickte. »Euch ist ja sicher bewußt, daß wir uns in zwei Sippen geteilt haben. Dag und Liv und ihre Kinder, Tarald und Cecilie,
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