Die Saga vom Eisvolk 04 - Sehnsucht
loszugehen. Er tat Yrja aufrichtig leid, und sie bemühte sich wirklich, ihm soviel Freude wie möglich zu bereiten, aber sie war nicht Cecilie. »Wann kommt sie wieder?«, fragte er.
»So bald sie kann, Kolgrim, denn sie will dich gerne Wiedersehen. Nächstes Jahr vielleicht, oder übernächstes.« Da seufzte er schwer, und das tat Yrja innerlich auch. Cecilic war ein Segen für sie alle gewesen, auch wenn sie dem Jungen Flausen in den Kopf gesetzt hatte. Aber all ihre haarsträubenden Geschichten über Trolle und Hexen und die Geheimnisse des Eisvolks schienen keinen Schaden bei ihm angerichtet zu haben, ganz im Gegenteil.
Gerade war er dabei, mit einem Stock auf sein Bett zu schlagen, wütend und ausdauernd. Yrja hatte keine Kraft, ihm zu sagen, daß er damit aufhören sollte. Immerhin war er beschäftigt…
Der kleine Mattias sah mit seinen milden, freundlichen Augen zu ihr hoch. Manchmal gefror ihr das Blut in den Adern vor lauter Angst, wenn sie daran dachte, was Kolgrim alles mit ihm anstellen konnte. Deshalb versuchte sie immer, dem älteren Jungen soviel Liebe zu geben, wie sie nur konnte - und war sehr vorsichtig damit, zu zeigen, wie sehr sie den Kleinen liebte.
Sie wußte, wie verblüfft Liv und Dag darüber waren, daß Kolgrim, der alle äußeren Anzeichen trug, einer der Betroffenen des Eisvolk-Fluchs zu sein, nie eine der seltsamen Eigenschaften an den Tag gelegt hatte, die diese Menschen für gewöhnlich prägten. Sie hatte von ihnen gehört - von Sol, die töten konnte, ohne das Opfer zu berühren, von Hanna, die alle Teufeleien der Welt beherrschte und Satan anbetete, von Tengels furchteinflößendem Zorn… Yrja erbebte innerlich und begriff, daß sie mit Kolgrim Glück gehabt hatten. Er war doch nur ein kleiner unglücklicher Junge.
Wieder nahm sie ihn in die Arme und herzte ihn, und wieder schob er sie gleichgültig von sich.
Yrja biß sich auf die Lippen. Sie fühlte sich so verzweifelt unzulänglich.
Heute hatte sie noch eine andere Sorge. Ihr geliebter Tarald war seit einigen Tagen so nervös, so geistesabwesend. Er saß da und grübelte, ganz in Gedanken versunken, kaute auf seinem Daumennagel herum und wippte mit den Beinen über der Armlehne. Sie mußte ihn mehrmals ansprechen, bevor er zusammenschreckte und antwortete.
Yrja fühlte sich hilflos und ängstlich. Hatte er sie satt? Bereute er ihre Heirat? Er war hinaus zur Arbeit gegangen. Ohne ein Wort.
Eine Dienstmagd kam herein, und Yrja nahm Kolgrim den Stock weg. Das ging nicht ohne Kampf ab. »Besuch für die Frau Baronin.«
Obwohl sie beide derselben Gesellschaftsschicht entstammten, lag in der Stimme des Dienstmädchens keinerlei Zynismus. Yrjas bescheidenes Wesen wurde von allen Bediensteten des Gutshofes gemocht und respektiert. Sie empfanden eine Art Zärtlichkeit für sie, vielleicht sogar einen gewissen Stolz, daß der junge Herr sich ein Mädchen erwählt hatte, das aus so ärmlichen Verhältnissen kam.
»Besuch für mich?«, sagte Yrja erstaunt. »Von daheim, von Eikeby?« »Nein, Frau Barorin. Es ist die Frau Pastor.«
»Ach du meine Güte! Bist du so lieb und kümmerst dich solange um die Kinder?« »Aber natürlich.«
Das Mädchen wußte genau, welche Verantwortung sie damit übernahm. Die beiden Brüder wurden niemals sich selbst überlassen. Sie war nicht besonders froh darüber, auf den ungebärdigen Kolgrim aufpassen zu müssen, aber es war notwendig, das verstand sie nur zu gut. Sogleich fing der Junge an, auf den Stuhl einzutreten, um festzustellen, ob sie böse wurde. Aber die Magd hatte ihre Lektion gelernt und blieb geduldig.
Yrja ging hinunter in die gute Stube, wo Julie wartete. Im letzten Moment konnte sie sich davon abhalten, vor der Pfarrersfrau zu knicksen.
Frau Julie war womöglich noch bezaubernder als sonst in ihren eleganten, betont schlichten Kleidern. Aber von ihrem Anliegen begriff Yrja nicht viel. Sie wollte Rat einholen um Mutter Augustine, weit draußen am anderen Ende des Kirchspiels. Wieso kam sie mit einer solchen Frage zu Yrja? Was wußte Yrja schon von Mutter Augustine?
Die schöne Dame blieb nicht lange. Höflich lehnte sie die angebotenen Erfrischungen ab und erhob sich.
Während sie ihre Handschuhe anzog und sich auf den Weg hinaus machte, sagte sie mit einem wehmütigen Lächeln so ganz nebenbei:
»Ach übrigens… Wollt Ihr Euren Gatten von mir grüßen, liebe Baronin von Meiden, und ihm ausrichten, daß ich ihm nicht länger gram bin? Ich habe mich entschlossen, die ganze
Weitere Kostenlose Bücher