Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
Wagen von Lindenallee und Grästensholm bogen vom Weg herein. Die Leute wußten nicht mehr, was sie denken oder tun sollten.
Aus den Kutschen stiegen die alte Baronin höchstpersönlich und ihre ganze Familie. Der beliebte junge Doktor… Und der Patriarch von Lindenallee mit seinen Angehörigen. Man grüßte sie verhalten. Beinahe gleichzeitig traf eine Kutsche aus südlicher Richtung ein. Das war der Herr auf Elistrand mit seiner hoch-wohlgeborenen Gattin, der Markgräfin, und ihrer Ziehtochter. Was mochte das zu bedeuten haben?
Mattias nickte Hilde aufmunternd zu und ging hinüber zum Leichenwagen. Tarald, Andreas und Brand taten es ihm gleich.
Joels Nachtmanns Sarg wurde hochgehoben und von zwei Baronen und zwei Herren von Lindenallee durch das Kirchentor getragen. Hinter dem Sarg ging Hilde, zusammen mit den beiden Baroninnen von Meiden, der alten und der jungen, dann die Markgräfin auf Elistrand und ihr Mann mit Tochter Eli, sowie der würdigste Mann des ganzen Kirchspiels, Are vom Eisvolk, samt seiner Schwiegertochter Matilda, der Tochter des Großbauern Niklas Niklassohn.
Eine atemlose Stille senkte sich über den Friedhof und die Umgebung. Dann begannen die Glocken mit dem Todesgeläut.
Als diejenigen Bewohner des Dorfes, die sich dorthin gewagt hatten, um einen Blick auf die Tochter des Nachtmanns zu werfen und vielleicht ihre Meinung über sie und ihren Vater loszuwerden, als diese Leute ihre Fassung wiedergewonnen hatten, sahen sie ein, daß sie dort nicht länger stehen und glotzen konnten. Aber sie wollten auch nichts verpassen. Ziemlich kleinlaut schlurften sie durch das Portal, einer nach dem anderen. So hatte Joel Nachtmann ein ungewöhnlich großes Gefolge zu seinem Grab. Und niemand sagte ein böses Wort, weder jetzt noch später auf dem Heimweg. Aber Hilde stand still am Grab des Vaters und spürte, wie ihre Tränen rannen. Zaghaft hob sie den Blick und sah Andreas Lind vom Eisvolk auf der anderen Seite des Grabes. Er stand neben dem jungen Mädchen von Elistrand, und als er Hildes Blick begegnete, lächelte er sie rasch und ermunternd an.
Und Hilde vergaß, traurig zu sein. Sie wurde von jubelndem Glück erfüllt. Er war gekommen, um ihrem Vater die letzte Ehre zu erweisen, um sie zu trösten und ihr beizustehen. Alle zusammen hatten sie gezeigt, daß ein Menschenleben, wie armselig es auch erscheinen mochte, Achtung und Respekt verdiente.
Der Alb träum war zu einer Feierstunde geworden. Daß sie nicht ihres Vaters wegen gekommen waren, auf diesen Gedanken kam sie nicht. Hilde hatte keine hohe Meinung von sich selbst. Sie war ein Niemand an diesem Tag, Vaters letztem auf dieser Erde.
Hinterher, als die Versammlung sich auflöste und sie mit Herrn Kaleb und der Markgräfin nach Elistrand fahren sollte, kamen sie zu ihr an den Wagen, einer nach dem anderen, und drückten ihr Beileid aus. Dorfbewohner ebenso wie hohe Herrschaften. Und Hilde knickste und dankte ihnen allen und entschuldigte sich, daß sie nicht zum Leichenschmaus bitten konnte, aber sie hätte ja nie erwartet. Sie verstanden. Als Andreas kam und mit seiner starken Hand die ihre ergriff, leuchteten ihre Augen auf, und in ihr schlichtes »Danke« versuchte sie all das hineinzulegen, was sie für ihn empfand.
Jeder hatte ein freundliches Wort für sie. Die alte Baronin ermahnte sie, sich die nächsten Tage ordentlich auszuruhen, und Doktor von Meiden sagte, daß er sie eigentlich hatte fragen wollen, ob sie nicht seine Helferin werden und ihm bei der anstrengenden Arbeit in der Gemeinde zur Hand gehen wollte, doch er sei zu der Überzeugung gelangt, daß sie es ruhiger und angenehmer auf Elistrand haben würde.
Und Hilde dankte und dankte, und die Tränen der Freude und Erleichterung flössen unaufhaltsam. Mattias reichte ihr diskret ein Taschentuch.
Dann war es vorbei, und sie setzte sich in die Kutsche an die Seite der süßen kleinen Eli, mit der sie bisher noch nicht viele Worte gewechselt hatte, aber sie spürte, daß sie sie sehr liebgewinnen würde.
6. KAPITEL
Nach Elistrand zu kommen war wie ein unwirklicher Traum für Hilde. Die großen, neuen Gebäude, die freundlichen Menschen, die Kinder, die es im Leben so schwer gehabt hatten und die hierher gekommen waren, zu den grünen Wiesen am See…
Früher hatte hier ein kleiner Häuslerhof gestanden, der zum Gut Grästensholm gehörte, aber es hatte seit langer Zeit niemand mehr dort gewohnt. Markgraf Alexander hatte Tarald die herrlichen Uferwiesen abgekauft und
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