Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
brauchte Zeit, um zu erwachen. Bis dahin würde er ihr Geborgenheit geben, würde geduldig warten, bis sie ihn besser kennengelernt hatte - bis sie eines Tages vielleicht auch den Mann in ihm entdeckte.
Natürlich könnte er zu Kaleb und Gabriella gehen und formell um ihre Hand anhalten, so daß eine Ehe arrangiert werden könnte. Aber so etwas war beim Eisvolk nicht üblich, war es nie gewesen. Sie hatten immer aus Liebe geheiratet. Eine Ausnahme war Tarald, der Yrja aus praktischen Erwägungen zur Frau nahm. Aber auch da hatte sich sehr schnell Liebe eingestellt. Das war ganz natürlich, dachte Andreas. Niemand konnte etwas anderes tun als Yrja liebhaben. Sie war die Güte, die Lebenswärme und die Liebe in Person.
Er wußte auch, daß Großvaters Schwester Liv eine furchtbar unglückliche Ehe durchgemacht hatte, als sie noch sehr, sehr jung war. Bevor sie ihren geliebten Dag geheiratet hatte. Aber er hatte nicht viel über diese erste Ehe gehört. Soweit er verstanden hatte, war der Mann so eifrig auf eine Heirat mit Liv bedacht gewesen, daß er sie schlichtweg überredet hatte. Von ihrer Seite aus konnte von Liebe also kaum die Rede gewesen sein.
Nein, die Angehörigen des Eisvolks taten gut daran, auf ihr Herz zu hören.
Und sein Herz hatte sich zweifellos für Eli entschieden. Jetzt galt es nur, Geduld zu zeigen. Sie nicht zu erschrecken.
So lange sie in ihm den Onkel sah, war alles hoffnungslos. Das mußte er versuchen zu ändern. Die Zeit würde ihm dabei helfen.
Aber das war gar nicht so einfach, wenn man zum ersten Mal in seinem ganzen siebenundzwanzigjährigen Leben die süßen Qualen der Liebe erlebte.
Hilde ging schon zeitig hinauf zu der Kate am Waldrand. Es war ein merkwürdiges Gefühl, daran zu denken, daß dort oben niemand auf sie wartete. Keine Kuh, keine Katze, keine Hühner. Und der Vater lag nun dort in der Scheune und war tot.
Der Totengräber würde zwar kommen, aber sie war so zeitig unterwegs, daß es noch eine gute Weile dauern würde, bis er eintraf.
Wie still es auf dem winzig Hof war. Wie schnell ein Ort doch veröden kann, dachte sie. Zögernd ging sie in das leere Haus.
Das Feuer im Kamin war erloschen. All die Dinge, die sie besonders liebte, befanden sich jetzt auf Elistrand. Der Katzennapf war hier zurückgeblieben. Aber die Katze hatte sicher schon einen neuen bekommen, und sie konnte nicht während der Beerdigung einen Katzennapf mit sich herumtragen.
Irgendwann in nicht allzu ferner Zukunft mußte sie wohl wieder hierher ziehen.
Der Gedanke widerstrebte ihr. Aber sie konnte doch auch nicht die ganze Zeit bei fremden Leuten wohnen. Ihre Gutmütigkeit ausnutzen.
Unter widerstreitenden Gefühlen ging sie hinaus und zur Scheune hinüber. Der Anstand gebot es wohl, daß sie ihrem Vater die letzte Ehre erwies. Ein Gebet für ihn sprach, hier, wo er ein Mannesalter lang gelebt hatte. Es knackte und raschelte im Wald, knackte auch hinter der Hausecke. Hilde blickte sich ängstlich um, aber es war niemand zu sehen. Die Einsamkeit verstärkte ja auch alle Geräusche.
Als wären ihre Füße aus Blei, schleppte sie sich die Scheunenauffahrt hinauf, die so von Moos und Gras überwachsen war, daß man die Steine kaum noch erkennen konnte. Wie lieb von den Männern, daß sie den Vater zurechtgemacht und auf das Leichenstroh gebettet hatten! Andreas… Andreas war dabeigewesen. Hatte er ihr wohl einen mitfühlenden Gedanken geschickt? Hatte er verstanden, welch schwieriges Verhältnis sie zu ihrem Vater hatte, den sie nicht achten konnte, wie sehr sie es auch versuchte?
Die Scheunentür knirschte in den Angeln, alt und abgenutzt, wie sie waren. Hier hatte sie ungezählte Ballen Heu auf ihrem Rücken hineingeschleppt, denn ein Pferd hatten sie nie besessen.
Drinnen war es dunkel, deshalb ließ sie die Tür offenstehen.
Gott sei Dank, sie hatten ihn mit seinen Bettfellen zugedeckt! Sie hätte es sicher nicht ertragen, sein Gesicht wiederzusehen - vor allem nicht, nachdem es sich im Augenblick des Todes zu einer grotesken Grimasse verzerrt hatte.
Oder… Er war ja zu dem Zeitpunkt bereits tot, hatte Herr Mattias gesagt. Das war eigentlich recht tröstlich. Obwohl es sie auch erschreckte. Daß jemand dort drinnen gewesen war.
Hilde sank auf die Knie und sprach halblaut ein Gebet, daß der Herr im Himmel Joel Nachtmann in Gnaden zu sich nehmen möge.
Die Scheunentür schwang im Wind und fiel beinahe zu. Es wurde fast ganz finster dort drinnen.
Und gib seiner Seele Frieden, auf
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