Die Saga vom Eisvolk 08 - Die Henkerstochter
daß sie nicht zurückbleibt in diesem Erdenleben…
Im Stall unten raschelte etwas. Sie warf einen Blick hinüber zu den wenigen Treppenstufen in der Ecke der Scheune, die hinunter führten. Es war so finster, das Tageslicht reichte nicht bis dorthin. Der Tag war auch so grau, daß das bißchen Licht, das durch den Türspalt hereinfiel, nicht viel Helligkeit brachte.
Es waren sicher Ratten, denn der Stall war ja leer. Aber solange sie zurückdenken konnte, hatten sie hier doch nie Ratten gehabt?
Herr, der du alle Sünder ansiehst, erhebe dein Angesicht auch zu diesem unglücklichen Mann…
Hilde erstarrte. Etwas schnüffelte und schnupperte und schnaufte dort unten, es schlich die Wand entlang, schwere Pfoten tapsten…
Sie hatte das Gebet vergessen. Einen endlos scheinenden Moment verharrte sie auf den Knien, wie im Krampf erstarrt, dann erhob sie sich lautlos.
Im selben Augenblick hörte sie ein anderes Geräusch. Das Knarren eines Fuhrwerks unten am Gatter. Hilde schoß aus der Scheune, stolperte die Scheunenbrücke hinunter und stürmte auf das Gatter zu, ohne zurückzuschauen, um keinen Preis der Welt hätte sie gewagt, sich umzudrehen.
Der Totengräber kam gemächlich angefahren, ein magerer, nüchterner Mann in schwarzen Kleidern. »Du liebe Güte«, sagte er. »Was ist denn mit dem Fräulein los?«
»Das ist etwas im Stall«, keuchte sie. »Ein großes Tier!« Er antwortete nicht. Blickte nur skeptisch hinauf zur Scheune am Waldsaum. Hilde ging nebenher, eine Hand am Wagen, während er auf den Hofplatz fuhr. »Wo ist der Verblichene?« fragte er, denn er hatte gelernt, pietätvoll über die Toten zu sprechen. »Oben in der Scheune.«
86 Er sprang vom Wagen.
»Die Stalltür ist doch zu. Der Querbalken liegt vor.« »Ja.«
»Also wie sollte da ein Tier hineingelangen? Von dort oben, vielleicht?«
»Nein, die Scheunentür war auch zu, als ich kam.« »Und der Mistschacht?«
»Ach nein, der ist zugesperrt. Da kommt niemand durch.«
»Also dann wäre das Tier eingesperrt, sozusagen?« »Sieht ganz so aus«, erwiderte sie kleinlaut. »Und das Fräulein hat es wirklich gehört?« »Ja, ganz bestimmt!«
Er sah sie nicht an, während er bedächtig seine Worte abwog. Sie erzeugten ein schwaches Echo an diesem einsamen Ort.
Aber er nahm eine kräftige Stange vom Wagen, auf dem eine einfach Kiste bereitstand.
»Am besten sehen wir mal nach. Vielleicht nimmt sich das Fräulein die andere Tragestange… « Das tat sie.
Hilde spürte seine Vorbehalte. Sie war die Tochter des Henkersknechts. Aber er hatte einen Auftrag zu erledigen - also mußte er es solange mit ihr aushalten.
»Hat keinen Zweck, unten reinzugehen«, sagte er mißmutig. »Dann entwischt es oben durch die Scheune.« Sie gingen hinüber zur Scheunenbrücke. Hilde zitterte wie Espenlaub.
»Was glaubt das Fräulein, was es war? Wonach hat es sich angehört?«
»Es… schnüffelte, schnupperte. Schnaufte und grunzte.« »Vielleicht ein Dachs?«
»Könnte sein. Aber es hörte sich viel größer an. Viel schwerer.«
»Hm«, sagte er. »Bären haben wir hier im Kirchspiel nicht, schon seit hundert Jahren nicht mehr. Deshalb glaube ich nicht, daß es Meister Petz war.«
Sie bemerkte, daß er eine Umschreibung benutzte, statt das Tier bei seinem richtigen Namen zu nennen. Das jagte ihr einen ganz argen Schrecken ein.
Sie öffnete die Scheunentür sperrangelweit. Der Tote lag immer noch so da, vollkommen zugedeckt. »Wo war es… ?«
»Es war unterwegs zur Treppe dort«, zeigte sie. »Ich glaube sogar, es war auf dem Weg hier herauf.« »Tja, über die Scheunenbrücke kann es nicht entwischt sein, das hätte ich vom Weg aus gesehen. Also muß es wohl dort unten sein.« Sie sprachen leise, beinahe flüsternd.
Der Totengräber griff fest um die Stange und bewegte sich vorsichtig die ausgetretenen Treppenstufen hinunter. Hilde vergewisserte sich, daß sich oben auf dem Scheunenboden nichts versteckt hielt, und folgte ihm ängstlich, jederzeit bereit, wieder nach oben zu rennen, falls es nötig sein sollte.
Der Mann blieb auf der untersten Treppenstufe stehen. »Das Fräulein hat es hier schön in Ordnung gehalten, wie ich sehe.«
Das klang, als hätte er das von der Tochter des Nachtmannes nicht erwartet.
Er blieb stehen, wo er war. Hilde wußte, daß er von dort aus den kleinen Stall ganz überblicken konnte. »Nein, hier ist nichts.« »Aber ich bin ganz sicher… «
Der Totengräber hatte sich zur Wand neben der Treppe umgedreht. Ein
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