Die Sanddornkönigin
in die Höhle des Löwen zu begeben. Die Idee war noch nicht einmal ihrem kreativen Köpfchen entsprungen. Nachdem sie mit Leitungswasser aus Zahnputzbechern auf ihre gemeinsame Sache und ihre Vornamen angestoßen hatten, war Hilke aufgestanden, hatte sich vor den Ganzkörperspiegel gestellt und gefragt:
»Meinst du, Orange würde mir stehen?«
Der Plan war genial: Wenn sie selbstverständlich in den voll besetzten Speisesaal hineinspazierte, dann hätte Thore Felten keine Wahl, als sie gewähren zu lassen. Einen Eheskandal vor all diesen für ihn bedeutsamen Menschen würde er in jedem Fall vermeiden wollen. Dass sie bei der Begegnung auch noch das Kleid von Ronja Polwinski tragen würde, bedeutete für Felten noch einen weiteren Hieb, der ihn in die Ecke manövrieren könnte, in der sie ihn haben wollten: Er sollte außer sich sein, er sollte zum Zerreißen gespannt sein, er sollte schutzlos ihren direkten Anschuldigungen ausgeliefert sein. Denn was er dann sagen würde, wäre die Wahrheit.
Wencke ahnte, dass es für Hilke ein ebenso befreiendes wie grausames Spiel sein musste, genau wie auch sie selbst nicht zu sagen vermochte, ob sie den Enthüllungen gewachsen wäre. Denn der Verdacht, der beiden Frauen gleichzeitig fast schleichend, aber mit Gewalt gekommen war, brächte für keine von beiden den Sieg: Fokke Cromminga hatte einen verdammt guten Grund gehabt, Ronja aus der Welt zu schaffen, vielleicht hatte er sogar das stärkste Motiv von allen. Er wollte nicht ein zweites Mal als Spitzenkoch den Traum vom Gourmetrestaurant zu Grabe tragen, er wollte bei einem Zweikampf mit dem Stiefvater nicht schon wieder den Kürzeren ziehen, er wollte sich von niemandem mehr Steine in den Weg legen lassen, den er entschlossen war zu gehen.
Wencke sah vor dem inneren Auge diese seltsamen Diagramme ihres Kollegen Sanders vor sich, und bei Fokke stand nicht nur der Balken beim »Motiv« an oberster Stelle, nein, auch die anderen Kriterien konnte er ohne weiteres erfüllen: Er hatte die Möglichkeit, ohne Aufsehen zu erregen, das Kühlhaus in Beschlag zu nehmen. Er hatte das Potenzial, da er von seinem Perfektionismus besessen war. Wenckes weibliche Intuition hatte noch einen weiteren Punkt auf Sanders’ Werteskala hinzugefügt: die »Handschrift«. Eine malerische Schönheit in den Dünen, es konnte kein Zufall sein, dass Ronja Polwinski wie dekoriert ausgesehen hatte, wie garniert. Ihr kam die Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit in den Sinn, mit der Fokke ihr das exotische Obst gereicht hatte. Und ab diesem Moment war sie sich fast schon zu sicher gewesen, den größten Fehler ihres Lebens begangen zu haben: Sie war mit einem Mörder ins Bett gegangen.
Wencke stand noch immer im Foyer, Felten hatte seine Frau nach dem Trinkspruch hinter die Bühne gezerrt, unauffällig und mit sanfter Gewalt, außer ihr hatte es wohl niemand bemerkt. Sie suchte in der verwirrenden Menschenmenge nach Meint und Sanders, doch selbst als die Gäste die Plätze eingenommen hatten, war ihr noch keiner der beiden Kollegen aufgefallen. Sie hatte damit gerechnet, dass sie sich unter die Leute gemischt hätten, und ein wenig Befürchtungen gehabt, Sanders könnte in seinem blinden Ehrgeiz Hilke Felten-Cromminga von der Bühne holen. Nichts dergleichen war geschehen. Vielleicht waren die beiden gar nicht hier, sie gingen heute alle getrennte Wege, Sanders war noch nicht einmal zum Frühstück erschienen, was Wencke nur recht war.
Den Musiker am Akkordeon nahm sie erst so richtig wahr, als er seine erste Pause machte. Nach einem höflichen Applaus verließ er die Bühne, Wencke schaute gebannt, was nun geschehen könnte. Nach nur wenigen Augenblicken trat Thore Felten ans Mikrophon, Hilke war nicht zu sehen, sie musste immer noch hinter dem dunklen Vorhang stecken. Wencke wünschte, sie könnte für einen Moment zu ihr. Sie konnte aus der Entfernung nicht einschätzen, in welcher Verfassung Thore Felten war. Auf den ersten Blick wirkte er, als wäre nichts geschehen. Erst als er die ersten Worte an das Publikum richtete, wurde sie seiner Angespanntheit gewahr.
»Vielen Dank an unseren Musiker, ähm… entschuldigen Sie vielmals. Noch einmal: Vielen Dank an Ruven Aechterbroek aus Groningen am Schifferklavier. Er wird uns durch das heutige Menü musikalisch begleiten.« Der Applaus, der nun einsetzte, war verhalten, Wencke registrierte einige Köpfe, die sich irritiert einander zuneigten, und ein leises, kaum wahrnehmbares Flüstern erfüllte
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