Die Sanddornkönigin
im Dienst war.
Thore Felten stand jetzt einfach nur da, ein, zwei Köpfe höher als die anderen Anwesenden, die noch nicht Platz genommen hatten, kein Scheinwerfer warf einen auffälligen Lichtkegel auf ihn, und kein Mikrophon kündigte durch ein rückkoppelndes Kreischen seine Rede an. Er lächelte in seinem makellos schwarzen Anzug und überblickte die illustre Schar, die sich in seinem Hotel eingefunden hatte.
Sanders, der sich diskret hinter einer weißen, verzierten Säule plaziert hatte, konnte nicht anders, als ihm heimliche Bewunderung zuteil werden zu lassen. Charisma war eine der wichtigsten und beachtenswertesten Eigenschaften, die auch Sanders sich brennend wünschte, denn er wusste, diese allgegenwärtige Aura besaß er noch nicht. Seine Freunde und Kollegen mochten ihn wohl als Respektsperson und Charakterkopf bezeichnen, doch mit dem bloßen Auftreten Hunderte von Leuten in seinen Bann zu ziehen, das war ihm noch nicht gelungen. Er wusste, er würde Thore Felten allein deswegen heute besonders im Auge behalten, doch auch, weil er ihn mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit für den Mörder von Ronja Polwinski hielt. Wenn Felten heute nur ein einziges Mal den Anlass bot, dann würde er mit Freuden die Handschellen um seine gestärkten Manschetten schnappen lassen, auch wenn es hier vielleicht nicht der richtige Ort zu sein schien.
»Meine sehr verehrten Damen, meine hoch geschätzten Herren, es ist eine wunderbare Aussicht von hier oben, und das Wissen, dass Sie alle unserer Einladung zu den ersten Juister ›Sanddorntagen‹ gefolgt sind, macht mich und das gesamte Personal des Hotels ›Dünenschloss‹ sehr stolz.« Seine Stimme klang über das Mikrophon fest und freundlich, trocken und angenehm. Sanders würde sich diesen Tonfall merken, er spürte, wie der Hotelier seine Gäste allein mit dem Klang der Stimme herzlich willkommen heißen konnte.
»Sie werden sicherlich verstehen, dass ich einen Gast noch besonders hervorhebe: Wir haben heute auch den niedersächsischen Ministerpräsidenten und seine verehrte Gattin unter uns. Wir freuen uns ganz besonders, Sie aus Ihren Amtsgeschäften heraus auf unsere zauberhafte Insel gelockt zu haben. Dies ist ein sehr erfreulicher Anlass, der uns auch die Aufmerksamkeit der Presse sichert. Leider war der Anlass, mit dem die Medien sich in den letzten Tagen beschäftigten, alles andere als erfreulich.« Eine dunkle Stimmung legte sich spürbar auf die lauschenden Gäste.
»Unsere von allen geschätzte Mitarbeiterin Ronja Polwinski, deren konstruktiver Arbeitsweise auch die Idee zu den heutigen ›Sanddorntagen‹ entsprungen ist, weilt leider nicht mehr unter uns. Zu unserem Entsetzen müssen wir davon ausgehen, dass sie hier auf der Insel einem Gewaltverbrechen zum Opfer gefallen ist.
Wir hoffen auf die Arbeit der Auricher Kriminalpolizei, die seit einigen Tagen ihre Ermittlungen in diesem Fall führt. Frau Polwinski werden wir ein ehrenvolles Andenken in unserem Hause bewahren. Sie sollte heute Abend die Repräsentantin sein, die ›Sanddornkönigin‹ haben wir sie genannt. Nun können wir dieses Gourmettreffen lediglich in ihrem Sinne, leider aber für immer ohne ihre so angenehme Anwesenheit zelebrieren.«
Am anderen Ende des Saales öffnete sich die schwere Glastür, jemand kam herein, doch Sanders konnte nicht erkennen, wer es war. Das Raunen, das durch die Menge ging und Thore Feltens aschfahles Gesicht ließen ihn ahnen, dass niemand damit gerechnet zu haben schien.
Die Menschenmenge bildete einen Gang, und dann konnte auch Sanders sie sehen: Eine schöne, stolze Frau schritt über das Parkett der Bühne entgegen, schaute lächelnd nach links und nach rechts und umhüllte alle Anwesenden mit ihrem Blick. Das Kleid an ihrem Körper war vielleicht ein wenig zu grell für ihr Alter, es war orangerot und mit Pailletten kunstvoll bestickt, doch da es sicherlich als Hommage an die Sanddornbeere zu verstehen war, konnte man diese stilistische Sünde ohne weiteres verzeihen. Das kinnlange tiefschwarze Haar war schlicht und edel nach hinten gekämmt. Auf Make-up und Schmuck hatte die ihm völlig Unbekannte ganz verzichtet, eine feine Schramme zog sich über die linke Wange, doch war diese Frau reizvoller und auf natürliche Art schöner als die meisten der zurechtgemachten Damen hier im Saal. Sie ging ebenfalls die Bühnentreppe hinauf, stellte sich neben Thore Felten und ergriff das Mikrophon. Das Lächeln, welches sie den Menschen vor ihr schenkte, war
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