Die sanfte Hand des Todes
Stimme der Heimleiterin. Es war ungewöhnlich, dass eine Krankenhausmitarbeiterin zur Beerdigung erschien.
Auf dem Weg zum Krematorium hielt Dawn bei einem Blumenhändler in Thornton Heath. Der winzige Laden war mit Blumen vollgestopft: hellrosa und gelbe Nelken, sonnengelbe Gerbera in Zellophan, lila Iris auf langen Stängeln, die in einer Vase steckten. Die Grabgestecke im hinteren Teil des Ladens wirkten nüchterner, die Farbzusammenstellungen dezenter. Dawn verbrachte ein paar Minuten damit, die gedämpften Creme- und blassen Rosatöne der Sträuße zu bewundern, bevor sie den hübschesten auswählte: ein Bouquet aus weißen und roten Rosen in einer Manschette aus dunklen, glänzenden Blättern.
»Rot und Weiß zusammen in einem Strauß«, hätte Dora geschimpft, »das bringt einer Kranken Unglück!« Aber nun war es auch egal, außerdem waren die Rosen wunderschön, weich und samtig und von winzigen Tautropfen benetzt. Sie erfüllten den ganzen Laden mit ihrem zarten Duft.
Dawn betrat die Krematoriumskapelle als Erste. Aus versteckten Lautsprechern drang leise die Hymne Jerusalem in einer Panflötenversion. Es roch muffig warm – vermutlich lag das an dem braunen Teppich, der die Wände und den Fußboden bedeckte. Dawn fühlte sich an einen amerikanischen Gerichtssaal erinnert, wie sie ihn aus dem Fernsehen kannte, außer dass hier ein Sarg stand.
Die Vikarin, eine Frau mittleren Alters in grauer Bluse mit weißem Kragen, stand am Rednerpult und justierte das Mikrofon. Dawn nahm in der dritten Reihe Platz. Die erste wäre vermessen gewesen; sicher würde dort die Familie sitzen. Sie legte sich die Rosen auf den Schoß, fühlte den nassen Tau an ihren Handflächen und fragte sich erneut, wie Heather Warmington wohl aussehen mochte. Dawn war auch deswegen gekommen, um Mrs. Walkers Nichte kennenzulernen. Sie wollte mehr über Ivy wissen, vielleicht sogar nach der Trauerfeier einen Kaffee trinken gehen und sich in Ruhe unterhalten. Dann würde sie aus erster Hand erfahren, wie Mrs. Walker vor ihrer Krankheit gelebt hatte, was für ein Mensch sie gewesen war – lebhaft, neugierig, gütig. Wie sie sich ihr Ende vorgestellt hatte.
Als die Kapellentür aufging, drehte Dawn sich um. Eine Frau um Mitte vierzig, in dunkler Hose und weißer Bluse, eilte den Gang entlang. Sie hielt eine große Lederhandtasche an die Brust gepresst und ließ sich einige Plätze von Dawn entfernt nieder. Dort begann sie in ihrer Handtasche zu kramen. Ihr langes, grau werdendes Haar fiel ihr in dünnen Strähnen in die Stirn.
Dawn lehnte sich zur Seite. »Mrs. Warmington?«
Die Frau hielt inne und hob den Kopf. Dawn streckte ihr lächelnd eine Hand entgegen. »Mein Name ist Dawn Torridge. Ich bin Oberschwester im Krankenhaus St. Iberius. Ich glaube, wir haben neulich telefoniert.«
Die Frau starrte sie verständnislos und mit einer tiefen Falte über der Nasenwurzel an. Dann glättete sich ihre Stirn.
»Oh, ich verstehe«, sagte sie. »Nein, nein, nein. Ich bin nicht die Nichte.«
Sie ergriff Dawns Hand und schüttelte sie kräftig.
»Celia Dartson«, sagte sie. »Ich bin die Leiterin von The Beeches und ein bisschen spät dran, aber das Wetter und der Verkehr waren heute schrecklich. Die Strecke von Morden bis hierher war ein einziger Stau.«
Die Vikarin hüstelte. »Fehlt noch jemand?«
»Nein«, entgegnete Celia Dartson. »Alle sind da.«
Dawn flüsterte: »Was ist mit der Nichte?«
»Sie hat es nicht geschafft«, murmelte Celia Dartson. »Sie hat mich heute Morgen angerufen, um es mir zu sagen.«
Der Trauergottesdienst begann. »Ich bin die Auferstehung und das Leben.«
Betreten schaute Dawn sich in der Kapelle um. Doras Beerdigung war schlicht gewesen, höchstens fünfundzwanzig Trauergäste, zumeist ältere Nachbarinnen und Verwandte, waren in die winzige Erlöserkirche von Silham Vale gekommen. Dawns Vater war Doras einziges Kind gewesen. Aber die Versammlung, so klein sie auch gewesen sein mochte, war von aufrichtigem Gefühl erfüllt gewesen. Judy, Dawns beste Freundin seit der Ausbildung, hatte neben ihr gesessen und ihre Hand gedrückt, und auf der anderen Seite hatte Francine die Stellung gehalten. Nach der Zeremonie hatte es Tee und Kuchen in der Crocus Road gegeben, dazu Ansprachen und Anekdoten und sogar Gesang. Die Trauergäste hatten
sich ums Klavier geschart, wo Eileen Warren, die Nachbarin aus der Nummer 62, »When You Were Sweet Sixteen« spielte. Das Lied war sehr populär gewesen, als Dora ihren
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