Die sanfte Hand des Todes
verschnörkelten Schriftzug »Café« und darunter die Worte: »Auch zum Mitnehmen«. Der Andrang von der Straße war so groß, dass Dawn sich wie von einer Welle in den Laden hineingetragen fühlte.
»Puh«, sagte eine Frau lachend und spreizte die Arme, um die Nässe abzuschütteln.
Milly kroch unter einen Tisch am Fenster. Sie mochte den Regen nicht. Dawn folgte ihr und setzte sich. Das Haar klebte ihr an der Stirn. Die Tische waren mit blau karierten Tischdecken bedeckt, darauf standen Milchkännchen aus Edelstahl und große Ketchupflaschen. Die lachende Frau
hatte sich zusammen mit einem rothaarigen Mann und einem Kleinkind am Nachbartisch niedergelassen.
»Ja, bitte?« Ein Mann mit Schürze über den Jeans stand vor Dawn. Hinter seinem Ohr klemmte ein Bleistift.
»Einen Kaffee, bitte«, sagte Dawn.
Der Mann ging. Etwas stupste Dawn ans Knie; Millys nasse Schnauze hinterließ einen dunklen, feuchten Fleck auf Dawns Hose. Aus freundlichen Augen blickte die Hündin zu Dawn auf. Ich weiß doch, dass etwas nicht stimmt. Warum sagst du mir nicht, was los ist?
Dawn tätschelte den Hundekopf. »Meine kluge alte Freundin.«
Was sollten die anderen von ihr denken? Die Wahrheit war, dass Dawn sich immer für eine ausnehmend gute Krankenschwester gehalten hatte. Die Auszeichnungen, die frühe Beförderung zur Oberschwester, all ihre hochtrabenden Pläne für das Krankenhaus. Sie hatte sich immer für etwas Besseres gehalten, für begabter als die anderen; sie glaubte, Entscheidungen treffen zu können, vor denen sich jede normale Krankenschwester gefürchtet hätte. Die Wahrheit war, dass sie nichts Besonderes war. Nicht im Geringsten.
Die Tür des Cafés öffnete sich mit einem metallischen Klappern. Eine Windbö wehte von der Straße herein. Ein Mann mit einem großen, nervös hechelnden Irish Setter trat ein. Der Setter kam sofort angelaufen, um an Milly zu schnüffeln. Milly ignorierte ihn und nahm den Kopf nicht von Dawns Knie. Der kleine Junge am Nebentisch fiel vor Begeisterung fast aus dem Kinderstuhl.
»Meiner!«, rief er und deutete auf den Hund.
Der Setter drückte Brust und Vorderläufe auf den Boden und bellte aufgeregt. Sein Besitzer, ein großer, ungepflegt wirkender Mann mit Brille, kam näher.
»Boris«, sagte er, »komm her.«
»Sorry«, sagte er zu Dawn, während er den Hund am Halsband zurückzog. Das Kind fing zu weinen an und streckte beide Arme aus. »Meiner!«
»Ben.« Der Vater versuchte, den Jungen abzulenken. »Iss dein Sandwich.« Keine Frage, er war der Vater. Dawn war kaum jemals zwei Menschen begegnet, die einander so ähnlich sahen. Beide hatten ein fröhliches Sommersprossengesicht, schlaksige Glieder und leuchtend rotes Haar. So ein Rot sah man selbst in London nicht jeden Tag. Ganz offensichtlich war der Vater sehr stolz auf seinen Sohn. Das zeigte sich in seinen Blicken und daran, wie er den Kopf des Kindes tätschelte, ihm die Marmelade von der Wange wischte.
Dawn wandte sich wieder zu ihrem Tisch um. Nein, sie war nichts Besonderes. Sie hatte es nicht geschafft, ihrer Großmutter die Zeit vor dem Tod zu erleichtern. Sie hatte es nicht geschafft, Mrs. Walkers Schmerzen in den Griff zu bekommen. Was noch hatte sie im Lauf der Jahre in ihrer Selbstherrlichkeit übersehen?
Es war ein Schock, es war, als blickte sie in den Spiegel und sähe eine Fremde. Sollte sie aufgeben? Sollte sie kündigen? Jemand, der getan hatte, was sie getan hatte, sollte sich nicht um kranke Menschen kümmern dürfen. Aber allein schon der Gedanke ließ sie zusammenzucken. Was sollte sie denn sonst machen? Seit fast zwanzig Jahren arbeitete sie im St. Iberius; niemand kannte das Krankenhaus so gut wie sie, den Geruch ihrer Station, die Geräusche. Wenn sie im Krankensaal stand und die Augen schloss, wusste sie immer noch, was ringsum vor sich ging. Wer würde ihre Aufgaben übernehmen, wenn sie nicht mehr da war? Wer würde sich so viel Mühe geben wie sie, jeden Tag aufs Neue?
Aber ging es nicht gerade darum? Was, wenn sie gar nicht die wunderbare Schwester war, für die sie sich immer gehalten
hatte? Was, wenn ihre sogenannte Kompetenz von Anfang an Einbildung gewesen war?
Das Kind am Nebentisch zappelte herum.
»Meiner«, jammerte es. »Meiner!« Der Vater versuchte vergeblich, das Kind zu beschäftigen. Dawn hörte, wie ein Teller über den Tisch geschoben wurde. Aus dem Gejammer wurde Geschrei. »Meiner!«
Der Junge hatte den Mund voll, aber das hielt ihn nicht vom Schreien ab. Der Ton
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