Die sanfte Hand des Todes
drehte sich um. Zu ihrer großen Überraschung stand Dr. Coulton vor ihr.
»Hallo«, sagte sie höflich. Was wollte der denn? Bislang hatte er sich, wenn er mit den Schwestern sprach, immer nur herablassend und arrogant gegeben.
Alles an Dr. Coulton war lang, schlank und blass: seine knochigen Glieder, sein schmaler Eierkopf, sein gestärkter, blütenreiner Kittel. Heutzutage trugen nur noch die wenigsten Ärzte Weiß. Sogar seine Lippen waren kaum mehr als zwei weiße Striche in seinem bleichen Gesicht. Das von draußen einfallende Licht spiegelte sich auf seiner Stirn und ließ sie noch höher erscheinen, als sie ohnehin schon war. Er sah aus wie das wandelnde Klischee vom verrückten Wissenschaftler, der die Weltherrschaft an sich reißen will.
»Hören Sie«, sagte er. »Sieht ganz danach aus, als hätten wir beide neulich einen schlechten Start gehabt. Vielleicht sollten wir noch mal von vorn anfangen.« Er streckte die Hand aus. »Edward Coulton.«
Er lächelte, als wären seine Lippen die Bewegung nicht gewohnt. Dawn ergriff seine Hand.
»Dawn Torridge«, sagte sie.
Wieder lächelte Dr. Coulton.
»Ich war sehr beeindruckt davon«, sagte er, »wie Sie sich neulich für den Patienten eingesetzt haben. Wie sich herausstellte, haben Sie genau richtig gehandelt.«
»Ach ja?«
»Ja. Und sicher freut es Sie zu erfahren, dass es ihm ausgezeichnet geht. Wir konnten ihn heute Morgen von den Geräten nehmen.«
»Tja, das ist wirklich eine gute Nachricht.« Sie meinte es ehrlich. Und wie nett von Dr. Coulton, es ihr zu sagen. Offenbar hatte er geahnt, dass sie sich Gedanken über den Fall gemacht hatte.
»Selbstverständlich«, fuhr Dr. Coulton fort, »ist Mr. Benson nicht der Einzige, für den Sie so großen Einsatz gezeigt haben. Ich bewundere aufrichtig, was Sie für die anderen Patienten tun.«
»Oh. Von wem sprechen Sie?«
»Von Ivy Walker.«
Dawn warf ihm einen skeptischen Blick zu, was er nicht zu bemerken schien. Er hatte sich dem Imbissstand zugewandt und musterte Fleischpasteten und Würstchen im Schlafrock.
»Wie meinen Sie das?«, fragte sie.
Dr. Coulton wählte eine Pastete aus und legte sie auf sein Tablett. Er drehte sich wieder zu Dawn um.
»Hm«, sagte er. »Ach, neulich. Sie wissen schon, bei der Visite. Als Sie Professor Kneebone fragten, was man noch gegen ihre Schmerzen unternehmen könne. Ich muss Ihnen anerkennend sagen, dass Sie die Einzige waren, die die Frage mit einer nichtlinearen Denkweise angegangen ist.«
Bei der Visite . Dawn hatte kaum bemerkt, dass die Warteschlange sich vorwärtsbewegte. Zwischen ihr und dem Vordermann war eine große Lücke entstanden. Die Visite! Natürlich! Sie schüttelte missbilligend den Kopf. Kein Grund,
paranoid zu werden. Anscheinend war Dr. Coulton einer von jenen Menschen, die selbst dann bedrohlich wirkten, wenn sie nur freundlich plaudern wollten. Ehrlich gesagt hatte sie ihn so freundlich noch nie erlebt. Vielleicht hatten sie alle sich ein falsches Urteil über ihn gebildet. Vielleicht war er nicht arrogant, sondern einfach nur schüchtern.
»Vielen Dank.« Sie schob ihr Tablett auf den Schienen vorwärts. »Es ist eine Schande, dass wir ihr nicht helfen konnten.«
Der Doktor folgte ihr. »Doch, das können wir. Ich habe gestern noch einmal mit meinem Team gesprochen. Wir werden sie heute noch einmal untersuchen.«
»Heute?« Dawn hielt erschreckt inne. »Aber … sie ist gestorben.«
»Gestorben?« Dr. Coulton hob erstaunt die Augenbrauen.
»Gestern Nachmittag. Ich dachte, Sie hätten davon gehört.«
»Nein, keiner hat mir etwas gesagt.« Er wirkte verwundert. »Was ist denn passiert? Ich habe sie gestern Früh persönlich untersucht. Meinem Eindruck nach war sie vom Sterben weit entfernt.«
»Wir haben sie einfach tot aufgefunden.« Dawn klammerte sich an ihrem Tablett fest. »Vermutlich ein Blutgerinnsel.«
»Ich verstehe.«
»Wie dem auch sei«, es war völlig gegen ihre Natur, einfach so draufloszuplappern, »ich glaube kaum, dass das Schmerzteam ihr hätte helfen können. Professor Kneebone hat selbst gesagt, dass sie für eine Operation nicht stabil genug war. Sie haben es selbst gehört. Er hat gesagt, sie würde die Narkose nicht überleben.«
Dr. Coulton winkte ab. »Die Palliativmedizin ist nicht Professor Kneebones Spezialgebiet. Das Schmerzteam ist es gewohnt, mit Patienten in kritischem Zustand umzugehen.
Die Kollegen haben gesagt, sie könnten eine ganze Menge für die Frau tun. Mit dem richtigen
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