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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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schwoll an, wurde gehalten und ebbte ab, wurde leiser und leiser wie eine abgeschaltete Sirene.
    »Ben«, zischte der Vater energisch, »Ben, benimm dich.«
    Aber Ben fing gerade erst an. Er kam in Fahrt. Er holte tief Luft, füllte seine Lunge und stieß einen zweiten Schrei aus, noch lauter und noch länger als der erste: »UUUUUÄÄÄÄÄÄÄÄÄ.« Und dann holte er noch einmal Luft, noch tiefer. Die Gäste im Café machten sich auf das Schlimmste gefasst.
    Aber nichts passierte.
    Statt eines durchdringenden Schreis, der alle Gläser im Lokal zum Zerspringen gebracht hätte, pulsierte eine unerwartete Stille durch den Raum. Dawn konnte förmlich fühlen, wie sich ihre Trommelfelle entspannten.
    Plötzlich scharrten Stuhlbeine über den Boden.
    »Ben?«
    Noch mehr Scharren, hektischer diesmal.
    »Ben?«
    Etwas stimmte nicht. Dawn drehte sich um. Der rothaarige Mann war aufgesprungen. Er stand mit dem Rücken zu Dawn und schien mit dem Kind zu ringen. Die Mutter am anderen Tischende war ebenfalls aufgesprungen.
    »Ben«, sagte sie.
    Sie hatte die Hände vor den Mund geschlagen. Ihr Gesicht
war schlaff geworden und wirkte wie ein zusammengefallenes Soufflé, das man zu früh aus dem Ofen genommen hatte.
    Ihr Gesicht sah aus wie Der Schrei .
    Dawn beugte sich zur Seite, um einen besseren Blick auf den Vater zu bekommen. Er kehrte ihr immer noch den Rücken zu. Was tat er da? Seine Schultern zuckten, so als wiederholte er mit aller Kraft dieselbe Bewegung. Schlug er sein Kind? Schüttelte er es? Noch während sie rätselte, richtete der Vater sich auf, wirbelte das Kind herum und schaute sich suchend um. Das Kind streckte die Arme von sich. Seine Lippen formten ein stummes O, seine Augen waren weit aufgerissen und klar wie Glasperlen. Sein Teint war fahl. Zunächst dachte Dawn, es läge am grauen Licht, das von draußen hereinfiel.
    »Er hat sich verschluckt.« Die Stimme des Vaters war heiser. »Er hat sich verschluckt, es kommt nicht raus.«
    Da erst begriff Dawn. Da erst kapierte sie es. Der laute Schrei, der volle Mund. Das tiefe Luftholen, die plötzliche Stille. Das Kind erstickte. Noch während sie das dachte, erschlaffte der Junge. Seine Arme sanken herab. Der Kopf sank in den Nacken, er verdrehte die Augen, und sein Gesicht …
    Sein Gesicht lief blau an.
    Dawn stand auf.
    »Rufen Sie einen Krankenwagen«, sagte sie.
    Niemand rührte sich. Alle starrten sie entgeistert an.
    Dawn wiederholte, lauter diesmal. »Jemand muss einen Krankenwagen rufen. Sofort!«
    Der große Mann mit dem Irish Setter stand neben ihr und tippte eine Nummer in sein Handy. »Alles klar«, sagte er, »wird erledigt.«
    Dawn wandte sich an den Vater. »Ich bin Krankenschwester. Kann ich helfen?«

    Er reagierte, indem er ihr das Kind in die Arme drückte. Damit hatte Dawn nicht gerechnet. Sie hielt das Kind fest, aber das Gewicht ließ sie rückwärts gegen die Stühle taumeln.
    »Tun Sie etwas«, sagte der Vater mit erstickter Stimme. Es klang, als hätte er einen Knoten in der Luftröhre.
    Dawn ließ sich auf einen Stuhl sinken. Der Kopf des Jungen lag auf ihrem Arm. Sein weiches rotes Haar stand ihm vom Kopf ab wie eine winzige rote Krone. Er trug ein grünes T-Shirt mit dem Bild einer Eisenbahn darauf. Unter dem T-Shirt hob und senkte sich seine Brust, aber kein Laut kam ihm über die Lippen. Keine Luft strömte ein oder aus. Dawn spürte, dass sie selbst immer schneller und flacher atmete, wie um den Luftmangel des Kindes auszugleichen. Sie war keine Kinderkrankenschwester. Kinder waren keine Erwachsenen. Sie gehörten einer anderen Spezies an, hatten mit Erwachsenen so viel gemein wie ein Mensch mit einem Hamster. Sie hatte keine Ausrüstung dabei, keinen Sauerstoff, keinen Defibrillator, kein Adrenalin. Die Rettungssanitäter verfügten über all das, aber sie würden es nie im Leben rechtzeitig schaffen.
    Sie war auf sich gestellt. Sie war die einzige Hoffnung.
    Ihre Hand tastete nach dem Kinderhals. Zu ihrer großen Erleichterung spürte sie das schnelle Flattern unter der Haut.
    »Ist er tot?«, kreischte die Mutter.
    Dawn sagte: »Nein.«
    Aber wenn er nicht bald atmete, würde er es sein. Ihr blieben noch drei Minuten, allerhöchstens fünf. Die Lippen des Kindes wurden immer dunkler. Keine Krankenschwester konnte diese Farbe sehen, ohne dass ihr das Herz stockte und das dringende Verlangen zu helfen in ihr geweckt wurde. Sie musste irgendetwas tun. Jetzt. Sofort. Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie jemals zum

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