Die sanfte Hand des Todes
großes Glas, und sie hatte seit dem Mittag nichts mehr gegessen –, aber auf einmal wurde sich Dawn bewusst, dass sie nur wenige Zentimeter nicht nur von einem anderen
Menschen, sondern von einem Mann entfernt stand. Keiner, nach dem man sich auf der Straße umdrehen würde. Seine Gestalt war zu gebeugt, das Gesicht zu kantig, die Miene zu ernst. Aber er hatte wache graue Augen, und seine scheue, intelligente Art erinnerte sie an einen See, dessen Tiefen niemand ergründen konnte. Gedankenverloren betrachtete sie seine schweren braunen Stiefel. Ohne nachzudenken, sagte sie: »Du humpelst ja gar nicht mehr.«
»Wie bitte?«
»Am Samstag hast du gehumpelt. Vor dem Café.«
Will schwieg. Dawn hob den Kopf und sah, dass er angestrengt nachdachte.
»Mein Knöchel«, sagte er schließlich. »An dem Tag hatte Boris mich im Park über den Haufen gerannt. Ich habe da eine alte Verletzung, die sich immer mal wieder meldet. Aber es war kaum der Rede wert. Ich hatte es schon fast vergessen. Schon am nächsten Tag tat es nicht mehr weh. Wie kommt es, dass du …?«
Sie hatte natürlich angeben und ihre Krankenschwesterqualitäten unter Beweis stellen wollen. Und es funktionierte; der Ausdruck der Bewunderung war in seine Augen zurückgekehrt, und sie musste sich eingestehen, dass sie die Bemerkung nur deswegen gemacht hatte. Sein Blick war leicht verändert. Noch intensiver und zum ersten Mal so etwas wie – männlich. Dawn fühlte sich stark und wagemutig, leicht und frei, trotz der klobigen Schuhe. Ihr Körper lehnte sich vor, wie von einer starken magnetischen Kraft angezogen.
Dann setzte die Magnetkraft abrupt aus. Was in aller Welt tat sie da? Zu viel Sonne, zu viel Wein. Das alles war falsch. Er gefiel ihr nicht. Er war zu schüchtern, zu merkwürdig. Sie kannte ihn kaum.
Sie trat einen Schritt zurück.
»Schluss für heute«, sagte sie. »Ich muss morgen früh raus.«
Sie sah ihn nicht noch einmal an, sondern lief voraus und rief Milly zu sich. »Hattest du einen schönen Tag? Ja, hattest du, nicht?« Als sie das Auto erreichten, waren ihr Puls und ihre Atmung fast schon wieder normal. Sie konnte sich sogar zu einem Kommentar über die zunehmend längeren Abende durchringen. Da war es schwierig, die Zeit im Auge zu behalten. Will antwortete knapp, aber die Leichtigkeit zwischen ihnen war dahin.
Kapitel 9
»Haben Sie irgendwas gemacht?« Mandy baute sich vor Dawn auf und stemmte die Hände in die Hüften.
»Wie meinen Sie das?« Dawn hob den Blick von den steril verpackten Verbänden, die sie überprüft hatte. »Wovon sprechen Sie?«
»Ich weiß auch nicht.« Mandy betrachtete sie mit zusammengekniffenen Augen. »Vielleicht liegt es an Ihren Haaren? Sie sind länger. Irgendwie natürlicher. Oder vielleicht nicht an den Haaren … Aber irgendwie sehen Sie anders aus. Gesünder oder so.«
Die Uhr über dem Schreibtisch zeigte fünf vor fünf an. Es war Zeit für einen Rundgang. Dawn verstaute die Verbände wieder in den Kartons.
»Wie geht es Jason?«, fragte sie.
»Ganz gut«, antwortete Mandy stolz. »Hat neulich einen Fußballpokal gewonnen. Aber gerade heute Morgen hat er mir erzählt, dass sie schon wieder auf Klassenfahrt gehen.«
»Und das kostet Geld, oder?«
»Die halten mich wohl für einen Goldesel.« Mandy verdrehte die Augen. Sie war vor drei Jahren wieder in den Beruf eingestiegen, nachdem ihr Mann Claud mit seiner Sekretärin durchgebrannt war und sie mit dem neun Jahre alten Jason alleingelassen hatte.
»Oh, sehen Sie«, fügte Mandy hinzu. »Der Professor ist da. Nun aber schnell.«
Professor Kneebone stand am Stationswagen, das Team
um sich geschart. Die Fachärzte bildeten den inneren Zirkel, dann kamen die Ärzte im Praktikum, während die Medizinstudenten den äußeren Kreis formten. Der Professor war wie der Saturn oder ein Stein, den man in einen Teich geworfen hatte.
Während sie neben Dawn durch die Station lief, überlegte Mandy weiter und schnipste schließlich mit den Fingern. »Nein«, sagte sie. »Nein, jetzt hab ich’s. Es liegt nicht an Ihrem Haar. Es ist Ihr Gesicht. Sie leuchten. Sie strahlen von innen!«
Dawn warf einen Blick in den Spiegel über dem Waschbecken, an dem sie vorbeikamen. Sie hielt inne. Mandy hatte recht – sie schaute tatsächlich besser aus. Lag es am Licht? Wohin war die bleiche Frau mit den dunklen Augenringen verschwunden, die ihr noch vor wenigen Wochen aus dem Spiegel entgegengestarrt hatte? Die Frau, die sie jetzt sah, wirkte jünger
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