Die sanfte Hand des Todes
gemacht? Wozu bin ich da?‹«
»Das stimmt«, sagte Dawn überrascht.
Obwohl dieses Bild idealisiert war. Die meisten Leute hatten eine verzerrte Vorstellung vom Beruf der Krankenschwester. Manche dachten, Krankenschwestern täten nichts anderes, als den ganzen Tag Betten zu machen und Erbrochenes aufzuwischen. Andere lagen genauso falsch und betrachteten sie als selbstlose Märtyrerinnen, die die ganze Menschheit liebten. »Ist es nicht furchtbar traurig?«, fragten diese Leute dann. Oder: »Ich könnte das nie. Ich kann kein Blut sehen.« Als ob ihr Leben auf einem höheren Niveau stattfände. Was, wenn sie eines Tages krank oder verletzt waren und alle anderen sich damit herausredeten, kein Blut sehen zu können?
In Wahrheit war der Beruf der Krankenschwester so wie alle anderen Berufe. Es gab dramatische Momente, aber der Rest bestand aus Routine, aus gesundem Menschenverstand. Doch war es schön, sich einmal durch die Augen eines Bewunderers zu sehen. Wer konnte schon der Versuchung widerstehen, sich als Heldin darzustellen?
»Die Krankenschwestern in der Klinik sind sehr gut mit Kate umgegangen«, sagte Will. »Das werde ich nie vergessen. Sie waren so nett zu ihr, auch wenn sie viel zu tun hatten. Das Personal scheint wohl immer knapp zu sein. Aber der Job ist wirklich wichtig. Ich frage mich, warum sich nicht mehr Leute dafür interessieren.«
»Tja, einen luxuriösen Lebensstil kann man davon nicht finanzieren«, sagte Dawn leichthin. »Versuch mal, in London mit einem Krankenschwestergehalt auszukommen.«
»Aber dich hat es anscheinend nicht davon abgehalten, oder?« Immer noch schaute er sie an. »Warum hast du dich dafür entschieden?«
Das fragten die Leute ständig. Normalerweise antwortete sie dann: »Weil ich anderen helfen will.« Oder: »Ich mag die Abwechslung.«
Sie hörte sich sagen: »Meine Eltern sind gestorben. Bei einem Autounfall am zweiten Weihnachtstag. Ein Betrunkener ist ihnen auf dem Honisterpass in die Seite gefahren.«
Will schlug die Augen nieder. »Ich habe davon gehört.«
Dann wusste er es also doch. »Mein Vater«, sagte sie, »starb an Ort und Stelle, meine Mutter überlebte noch eine Woche. Ich habe sie jeden Tag im Krankenhaus besucht.«
Will sagte leise: »Und dir hat gefallen, wie man mit ihr umgegangen ist?«
»Na ja, irgendwie schon. Sie hat auf einer schrecklichen Station gelegen. Absolut verdreckt. Und dieser Krach. Wie auf einem Bahnhof zur Hauptverkehrszeit.« Sie war zehn Jahre alt gewesen, aber sie hatte es immer noch vor Augen. Die Blutflecken auf dem Fußboden neben dem Bett ihrer Mutter, die tagelang nicht weggewischt wurden. Das ständige Klappern und Scheppern der Wagen, das Schrillen der Telefone, der Trubel im Schwesternzimmer. Und wann immer sie sich den Schwestern genähert hatte, um etwas für ihre
Mutter zu erbitten, der der Schmerz im wahrsten Sinn des Wortes die Kehle zuschnürte, hatte sie eine endlose Litanei von Ausreden über sich ergehen lassen müssen: »Im Moment habe ich zu viel zu tun.« – »Ich habe gerade Pause.« – »Ich bin gerade erst aus dem Urlaub zurück.«
»Am Tag, als meine Mutter starb«, sagte sie, »kam eine Krankenschwester auf die Station, die ich noch nie gesehen hatte. Kaum tauchte sie auf, war das Krankenhaus ein anderer Ort. Leiser. Sauberer. Und manchmal nahm sie sich die Zeit, sich zu mir und meiner Mutter zu setzen. Sie war bei mir, als … Ich war noch ein Kind, aber ich hatte begriffen, was für einen Unterschied persönlicher Einsatz machen kann.« Sie biss sich auf die Zunge. Warum in aller Welt hatte sie das erzählt? Normalerweise redete sie nicht so viel über sich. Sie durfte sich selbst nicht zu wichtig nehmen. Aus irgendeinem Grund hatte Wills Offenheit dazu geführt, dass sie nun hier saß und plapperte wie ein Kind. Bestimmt hatte auch er mehr von sich preisgegeben als beabsichtigt.
Sie stand auf.
»Wir sollten gehen«, sagte sie. »Es wird spät.«
Sie versuchte, ihre Unsicherheit zu überspielen, indem sie um den Tisch herumlief und sich nach Milly bückte. »Milly«, rief sie. »Komm, los, wir gehen.« Auch Will hatte sich erhoben. Groß und breitschultrig stand er vor ihr.
»Du hast ein Menschenleben gerettet«, sagte er. »Neulich erst. Das können die wenigsten von sich behaupten.« So nah hatte sie noch nie vor ihm gestanden. Im Licht der untergehenden Sonne wirkte Wills Gesicht rosig. Die Luft roch nach gebratenen Zwiebeln und nach Wald. Vielleicht lag es am Wein – ein
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