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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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einander zuwandten. Will fühlte sich hier in London einsam. Er idealisierte sie, die Krankenschwester, und wer wollte es ihm verdenken? Dawn hatte im Café ein Kind gerettet, und damit war sie in seinen Augen zur Heldin geworden. Aber wenn er die wahre Dawn kennenlernen würde, die Dawn mit Polyesteruniform, Gesundheitsschuhen und Bergen von Arbeit, sähe das Ganze schon anders aus.
    Falls er sie kennenlernte. Er hatte ja nicht einmal die Absicht, in London zu bleiben, und sich für einen Job in Cumbria beworben, fast fünfhundert Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Es brachte also nichts, ein schlechtes Gewissen zu haben oder sich zu fragen, ob ein gewisser Moment vor einem Landgasthof ihn berührt hatte oder nicht. Schon bald würde Will nicht einmal mehr hier sein.
    Mr. Bensons Toast sprang aus dem Gerät. Dawn legte die Brotscheiben auf einen Teller. Sie suchte im Kühlschrank nach der Butter, als ihr noch etwas einfiel. Einmal, vor vielen Jahren, war in der Schule in Buttermere ein Igel auf den Schulhof gekommen. Er hatte sich in einem Pappbecher verfangen und konnte nichts mehr sehen. Die Mädchen hatten zu kreischen begonnen, und ein Junge hatte unter dem Klettergerüst versucht, das Tier zu treten. Da war wie aus dem Nichts ein älterer, größerer blonder Junge aufgetaucht und hatte den kleineren aus dem Weg geschubst, sich gebückt und den Igel vom Pappbecher befreit, um ihn dann vorsichtig in die Hände zu nehmen und auf dem Feld hinter der Schule freizulassen. Danach war der Junge wortlos verschwunden. Die Mädchen hatten sich gewundert, gekichert und getuschelt. »Das war Will Coombs«, hatte Jill Arscott
aus der Sechsten gesagt. »Der totale Spinner. Der redet nur mit seinem Hund.« Kurz danach waren Dawns Eltern gestorben, und sie war aus Cumbria weggezogen und hatte die Kinder vom Schulhof nie wiedergesehen.
    Sie brachte Mr. Benson den Toast.
    »Bitte sehr.« Sie stellte den Teller auf seinem Tablett ab. »Ich hoffe, das reicht.«
    »Vielen Dank, Schwester.« Mr. Benson rieb sich die Hände.
    Als Dawn gehen wollte, stand seine Frau auf, um sie ein Stück durch die Station zu begleiten.
    »Schwester, kann ich Sie kurz sprechen?«
    »Natürlich.« Dawn blieb stehen. Sie wies Mrs. Benson den Weg in eine leere Kabine und zog den Vorhang zu, um sich ungestört mit ihr unterhalten zu können.
    »Ich wollte nur sagen …« Mrs. Benson spielte nervös an dem Goldkettchen herum, an dem ihre Brille hing. »Mein Mann tut so, als nähme er es auf die leichte Schulter, aber wir beide wissen … Wir wissen, was ihm hätte zustoßen können.«
    »Nun ja, das ist jetzt alles Vergangenheit«, versicherte Dawn. »Es geht ihm jetzt ausgezeichnet. Wir sind sehr zufrieden mit ihm.«
    »Professor Kneebone hat gesagt, er hat gesagt, wenn Sie nicht gewesen wären …« Mrs. Benson schlug die Augen nieder und nestelte nervös an ihrer Brille herum.
    »Das gehört zu meiner Arbeit dazu«, entgegnete Dawn. »Im Ernst. Ich bin froh, dass ich helfen konnte.«
    »Aber Sie … Es tut mir leid.« Mrs. Benson ließ die Brille los und holte tief Luft. Sie legte sich die Finger an die Schläfen. »Es tut mir leid. Wie dumm von mir. Ich halte sie nur von der Arbeit ab.«
    Sie wollte gehen, aber Dawn legte ihr eine Hand auf den Arm.

    »Mrs. Benson«, erklärte sie, »es ist so, wie ich sage. Ich bin dankbar, dass ich helfen konnte. Es hat mich stolz und glücklich gemacht.«
    Mrs. Benson nickte. Ihr fehlten die Worte. Dawn drückte ihre Hand. Sie lächelte die Frau an und sah ihr nach, als sie zu ihrem Mann zurückging.
    Kurz vor Ende ihrer Schicht machte sie einen letzten Rundgang, überprüfte, ob das Lager aufgefüllt, der Defibrillator aufgeladen, alle Patienten stabil und versorgt waren. Sie schritt zwischen den Betten hindurch, und ihrem scharfen Blick entging nichts: der leere Seifenspender über dem Waschbecken, der fast leere Beutel mit Infusionslösung, der demnächst ersetzt werden musste. All die Kleinigkeiten, auf die es ankam. Erst als sie sich selbst leise summen hörte, wurde ihr klar, wie glücklich sie war. Sie liebte das alles hier. Das leise, konstante Piepen der Monitore, den Zitronenduft der frisch gereinigten Böden. Aus irgendeinem Grund hatte sie in den letzten Monaten den Spaß an der Arbeit verloren. Sie war so fleißig gewesen wie immer, aber sie hatte ihre Aufgaben erledigt wie am Fließband, mit gesenktem Kopf, ohne innezuhalten und ihre Mitmenschen bewusst wahrzunehmen. Morgens hatte sie gefragt:

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