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Die sanfte Hand des Todes

Die sanfte Hand des Todes

Titel: Die sanfte Hand des Todes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Abbie Taylor
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tun zu haben. Dawn erkannte, dass eine Karriere im IT-Bereich sehr gut zu ihm passte. Es war so ähnlich wie die Landwirtschaft – etwas für Einzelgänger.
    »Seit wann bist du in London?«, fragte sie.
    »Seit zwei Jahren.«
    »Aber du würdest gern wieder weg?«

    »Ja.« Wills Mundwinkel zuckte. »Ich bin eigentlich kein Stadtmensch, das hast du sicher längst gemerkt. Ich habe mich erst kürzlich für einen Job in der Heimat beworben.«
    »Kürzlich?«
    »Ja.« Er zögerte. »Nun ja«, fuhr er fort, »vorher ging es nicht. Wegen meiner Freundin.«
    »Oh.« Eine Freundin. Das war eine Überraschung! Dawn hätte schwören können, dass er allein lebte.
    »Tja«, fuhr Will fort, »eigentlich war sie meine Verlobte. Sie kam aus Keswick, und ich musste für eine Weile von da weg. Ich konnte nicht mehr bleiben. Es ist nämlich so, dass sie … Nun ja, sie hat …«
    Dawn verstand. Sie sagte: »Sie hat Schluss gemacht.«
    Sie war voller Mitgefühl. Dawn hatte eine zielstrebige junge Frau vor Augen, der schließlich der Geduldsfaden gerissen war angesichts dieses eigenbrötlerischen, schüchternen Brillenträgers.
    »Nein. Sie ist gestorben.«
    Dawn zuckte zusammen und nahm ihre Ellbogen vom Tisch. »Wie? O Gott, das tut mir so leid. Es geht mich nichts an.«
    »Ist schon gut«, sagte Will. »Es war vor drei Jahren. Sie hatte Brustkrebs.« Das Zögern vor dem Wort verriet ihr, dass es ihm immer noch schwerfiel, darüber zu sprechen.
    »Es tut mir leid.« Dawn schämte sich immer noch für ihre Taktlosigkeit. Wie hatte sie nur annehmen können, er interessiere sich für sie!
    »Ist schon gut. Es ist, wie ich sagte. Inzwischen könnte ich mir gut vorstellen, wieder zurückzuziehen.« Er trank einen großen Schluck Alsterwasser. Dann stellte er das Glas mit entschlossener Geste auf den Tisch zurück und hob den Kopf. »Und«, sagte er, »was ist mit dir? Was für eine Art von Krankenschwester bist du?«

    Darauf ging Dawn gerne ein.
    »Ich bin Oberschwester«, antwortete sie, »im St. Iberius in Battersea.«
    »Oberschwester!« Will stieß einen kleinen Pfiff aus, um seiner Bewunderung Ausdruck zu verleihen. »Dann kümmerst du dich gar nicht mehr selber um die Patienten?«
    »O doch, das tue ich. Das ist für mich der wichtigste Teil meiner Arbeit.«
    »Was gehört dazu? Wie sieht dein Tag so aus?«
    Anscheinend war er wild entschlossen, das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken. Dawn überlegte. Sie hatte jede Menge Krankenhausanekdoten auf Lager, so wie jede Krankenschwester. Sie fing an, einen ganz normalen Arbeitstag zu schildern, wobei sie Tragödien und Todesfälle aussparte und sich stattdessen auf die lustigen, anrührenden, herzergreifenden Geschichten konzentrierte. Weil sie ihn nicht langweilen wollte, hielt sie nach Anzeichen für ein unterdrücktes Gähnen Ausschau, die sie bei Kevin so oft beobachtet hatte. Aber Will gähnte nicht. Er schien aufrichtig interessiert an dem, was sie erzählte, musterte sie aufmerksam, nickte und zog an den lustigen Stellen die Nase kraus. Im Gegensatz zu den meisten anderen Gesprächspartnern brauchte sie ihm die technischen Details ihrer Arbeit nicht erst zu erklären. Auch wenn er Begriffe wie PE oder Infusionspumpe nicht auf Anhieb verstand, schienen sie für ihn aus dem Kontext heraus Bedeutung anzunehmen. Wahrscheinlich lag es an seiner technischen Ausbildung. Ihr war bislang gar nicht aufgefallen, dass er über eine schnelle Auffassungsgabe verfügte. Vermutlich gehörte er zu den Menschen, die eine Menge wussten, sich aber nie ungefragt äußerten. Er war intelligent, auch wenn er das nicht zur Schau stellte. Seine Brille spiegelte das Licht nicht mehr, und zum ersten Mal bemerkte sie, wie grau seine Augen waren – so grau wie die ihren.

    »Nordische Augen«, hatte ihr kumbrischer Großvater einmal gesagt. »Wie gemacht für den langen, dunklen Winter. Wir aus den Bergen sehen mehr als die anderen Menschen.«
    »Du liebst deine Arbeit wirklich, stimmt’s?« Er betrachtete sie eindringlich.
    »Meistens.« Dawn griff zum Weinglas und trank einen Schluck. »Es gibt auch schlechte Tage, an denen ich schwierige Entscheidungen treffen muss. Man kann nicht immer alles richtig machen.«
    »Aber du stehst voll dahinter.« Will beugte sich vor. So lebhaft hatte sie ihn noch nie gesehen. »So viele Leute langweilen sich bei der Arbeit, sie gehen nur wegen des Geldes hin. Aber du wachst nie mitten in der Nacht auf und denkst: ›Was habe ich nur aus meinem Leben

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