Die sanfte Hand des Todes
funkeln, legte sich wie eine honiggelbe Häkeldecke auf den Wohnzimmertisch und
wärmte Dawns Nacken. Erst einen Moment später bemerkte Dawn, dass ihr Posteingang auf dem Bildschirm erschienen war. Sie hatte eine neue Nachricht. In der Betreffzeile stand: Oberschwester Torridge, chirurgische Abteilung .
Der Absender war »Gratulant«.
Dawn stellte den Kaffeebecher ab. Wieder spürte sie das Klopfen im Hals. Das ging aber schnell! Er musste ihr geschrieben haben, kaum dass er das Morphium erhalten hatte. Aber sie hatte nichts zu befürchten. Vermutlich wollte er ihr nur bestätigen, dass die Sendung angekommen war.
Bevor sie die Mail öffnete, wartete sie absichtlich ein paar Minuten und trank ihren Kaffee. Sie hatte hier das Sagen. Sie brauchte keine Angst zu haben. Der »Gratulant« hatte endgültig keine Macht mehr über sie. Die Internetverbindung war heute Morgen ungewöhnlich langsam. Der Text erschien stückweise wie ein Puzzle, das sich selbst zusammensetzte. Er schien lang zu sein, zu lang für eine knappe Eingangsbestätigung. Als der Text vollständig geladen war, verstand Dawn ihn nicht auf Anhieb. Sie las ihn mit der gleichen Fassungslosigkeit, mit der sie die erste Nachricht gelesen hatte, mit der gleichen Überzeugung, es müsse sich um einen Irrtum handeln. Die gleiche Hitze in Wangen und Ohren, das Sodbrennen, als sie die Worte verschlang.
Liebe Oberschwester,
vielen Dank für das Morphium. Ich wusste, Sie würden es schaffen.
Aus Ihrem Brief entnehme ich, dass Sie der Spiele überdrüssig sind. Deswegen wird es Sie freuen zu hören, dass ich nur noch eine einzige Bitte an Sie habe. Die Angelegenheit ist kompliziert, aber ich werde versuchen, mich verständlich auszudrücken.
In einigen Wochen wird ein Patient – nennen wir ihn
Mr. F – für eine Operation ins St. Iberius kommen. Ich werde Ihnen die Details noch zukommen lassen, aber fürs Erste brauchen Sie nur Folgendes zu wissen:
Erstens wird er innerhalb der nächsten Wochen eingeliefert. Zweitens darf er das Krankenhaus nicht lebend verlassen.
Sie haben es schon einmal getan, deswegen bin ich sicher, dass Sie einen Weg finden werden. Glauben Sie mir, Ihre Methode ist das Beste für ihn. Und sobald es geschafft ist, hören Sie nie wieder etwas von mir, das verspreche ich.
Mit besten Grüßen,
Gratulant
Der Kaffeebecher war Dawn aus der Hand geglitten. Sie hatte es nicht einmal gemerkt. Er darf das Krankenhaus nicht lebend verlassen. Was sollte das heißen? Sie haben es schon einmal getan . Er meinte es tatsächlich ernst! Der Laptop, das Sonnenlicht auf der Tischplatte, die Kristallgläser auf der Anrichte, alles drehte sich mit einem Summton, der zu einem ohrenbetäubenden Brausen anschwoll. Nebenan tickte die Uhr auf dem Kaminsims, und Millys Pfoten klackerten auf dem Linoleumboden in der Küche. Eileen Warrens Rasenmäher dröhnte durch die ganze Straße. Aber Dawn hörte nichts von alldem.
Er wird das Krankenhaus nicht lebend verlassen. Gott. O Gott. Sie hatte mit allem gerechnet, aber das … Das überstieg ihre Vorstellungskraft. Sie war vollkommen überfordert. Sie warf einen Blick auf das Absendedatum. Gestern. Die Nachricht war gestern verfasst worden. Bevor sie nach London gefahren war, hatte Dawn einen Blick in ihr Postfach geworfen und nichts vorgefunden. Irgendwann im Lauf des vergangenen Abends, als sie mit ihrem Glitzertop im Zug
gesessen, Wein getrunken hatte, mit Will die blau beleuchtete Uferpromenade entlanggeschlendert und überzeugt gewesen war, Dr. Coulton endlich losgeworden zu sein, hatte er mit seinen bleichen, knochigen Fingern diesen bösartigen Text getippt.
Dawns Hand und der Bademantel waren nass vom ausgeschütteten Kaffee. Dawn fröstelte und kehrte ins Hier und Jetzt zurück. Das Wirbeln und Brausen ließ nach. Sie wusste, was sie tun musste. Sie würde zur Polizei gehen. Sie hätte es von Anfang an tun sollen, gleich nach der ersten E-Mail, aber sie war in Panik gewesen und hatte unbesonnenerweise das Geld verschickt. Warum hatte sie sich nicht mehr Zeit zum Nachdenken genommen? Wie hätte Dr. Coulton ihr nachweisen wollen, dass sie Mrs. Walker umgebracht hatte? Selbst wenn er alles mit eigenen Augen gesehen hatte, fehlten ihm die Beweise. Mrs. Walkers Leiche war eingeäschert worden. Dawns Wort hätte gegen seins gestanden. Sie hätte es durchstehen und alles abstreiten müssen. Sie arbeitete inzwischen seit fast zwanzig Jahren im St. Iberius und genoss einen ausgezeichneten Ruf. Francine
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