Die sanfte Hand des Todes
dieses treue, liebe Tier würde nicht von ihrer Seite weichen. Sie strich Milly ein letztes Mal über den Kopf und stand auf, um zu gehen. Aber als sie das Gartentor geöffnet hatte, drängelte Milly sich vor und zwängte sich an Dawn vorbei auf die Straße. Dawn schaffte es gerade noch rechtzeitig, sie beim Halsband zu packen. Sie war überrascht. So etwas hatte Milly noch nie versucht. Sie schien wirklich verzweifelt zu sein. Geh nicht weg. Lass mich nicht allein. Dawn musste mit einer Hand den Hund festhalten, mit der anderen öffnete sie das Gartentor, schlüpfte hinaus und machte es vor Millys samtweicher Schnauze wieder zu.
»Morgen bin ich wieder da«, erklärte sie. »Dann sehen wir uns, okay?«
Milly starrte ihr durch die Gitterstäbe nach, während Dawn die Straße entlanglief.
Erst im Bus merkte Dawn, dass ihre zittrigen Hände und die schwarzen Punkte vor ihren Augen nicht nur dem Schreck geschuldet waren; sie war völlig unterzuckert. Sie hatte heute noch nichts gegessen. Sie holte sich in der Krankenhauscafeteria einen Kaffee, gab zwei gehäufte Löffel Zucker hinein und trank noch an der Kasse einen großen Schluck. Als sie die Cafeteria mit dem Pappbecher in der Hand verließ, stieß sie fast mit Francine zusammen.
»Dawn!«, begrüßte Francine sie. »Ich dachte, du hast bis heute Abend frei?«
»Das stimmt«, sagte Dawn, »aber ich muss vor meinem Urlaub noch das eine oder andere regeln.«
»Im Ernst, Dawn«, schimpfte Francine, »je früher du Urlaub machst, desto besser. Ich muss schon sagen, du hast dir
schönes Wetter ausgesucht. Ich wünschte, ich könnte jetzt auch verreisen!«
Dawn dachte an die kommende Woche. Sie würde ganz allein zu Hause sitzen, niemanden zum Reden haben und nicht wissen, was zu tun wäre oder was als Nächstes passieren würde. Panik und eine klaustrophobische Angst überwältigten sie, und sie musste die Augen schließen. Als sie sie wieder öffnete, musterte Francine sie besorgt.
»Dawn, ist alles in Ordnung?«
»Ja. Ja, natürlich. Mir ist nur ein bisschen schwindlig.«
»Sicher?«
Als Dawn schwieg, nahm Francine sie beim Arm und führte sie in die Telefonecke, weg von den Besuchern. Mit schief gelegtem Kopf und besorgtem Gesicht baute sie sich vor Dawn auf, eine zierliche Gestalt in einem weißen Kittel. Francine war eine kluge und warmherzige Freundin. Im Lauf der Jahre hatten sie einander gut kennengelernt. Angesichts von Entlassungswellen, Etatkürzungen, Bettenmangel und tobenden Vorgesetzten war Francine immer für sie da gewesen, eine unbeirrbare Verbündete, der einzige Mensch, der zu ihr hielt, sie beriet, sie mit einer Tasse Kaffee aufmunterte. Sogar als Dawn zur Oberschwester befördert wurde, hatte das zwischen ihnen nicht zu Neid oder Verstimmung geführt. Francine hatte ihr immer die Treue gehalten und den Erfolg gegönnt, mit Blumen gratuliert und ihr Unterstützung zugesichert. Und obwohl ihre Stimme silberhell war und sie die Figur einer Ballerina hatte, war sie zäh, viel zäher noch als Judy. Wie die meisten Krankenschwestern ließ sie sich so schnell nicht aus der Fassung bringen. Sie tratschte nicht und maß sich kein Urteil an. Sie arbeitete auf der Intensivstation und hatte es ausschließlich mit Schwerkranken zu tun. Wenn irgendjemand das verstand, was Dawn getan hatte, dann Francine. Sie würde es nachvollziehen können.
Dawn öffnete den Mund.
»Schwester Hartnett auf die Intensiv! Schwester Hartnett auf die Intensiv!« Francines Pager blinkte rot.
»Was ist denn jetzt schon wieder?« Francine senkte den Kopf und schaltete das Gerät stumm. »Im Ernst, ich bin gerade einmal fünf Minuten weg.« Sie hob den Kopf. »Sorry, Dawn. Was wolltest du sagen?«
»Nichts, gar nichts. Geh ruhig.«
»Sicher?«
»Ja. Ich war nur … Ich habe noch nicht gefrühstückt.« Dawn hielt den Kaffeebecher hoch. Der Wunsch zu beichten, war schon wieder verflogen. Was in aller Welt hatte sie sich bloß gedacht? »Danach wird es mir besser gehen.«
»Okay.« Francine war schon wieder auf dem Weg. »Ruf mich an, wenn du irgendwas brauchst. Und ansonsten – gute Reise!« Sie winkte Dawn lächelnd zu, dann bog sie um die Ecke.
Dawn ging in ihr Büro, schloss die Tür, ließ die Jalousien herunter und schaltete den Computer ein. Sie ließ sich alle Patientendetails der Neuzugänge in den kommenden Wochen anzeigen. Eine lange Liste erschien. Das St. Iberius verfügte über fast siebenhundert Betten. Ein Name nach dem anderen erschien auf dem
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