Die satten Toten: Ein Fall für Karl Kane (Band 2) (German Edition)
Wahrheit bin ich ein langweiliger Abstinenzler und einer der letzten übrig gebliebenen Hippies.«
»Es war nicht so gemeint.«
»Inzwischen habe ich mich daran gewöhnt«, sagte Michael mit einem verkniffenen Lächeln.
»Wie viel wollen Sie?« Karl nahm einen Zehner aus der Brieftasche.
»Es ist nicht für mich«, antwortete Michael. »Sagen wir, zwanzig?«
»Zwanzig …« Allen quälenden Zweifeln zum Trotz tauschte Karl den Zehner gegen einen der wenigen Zwanziger aus, die er noch in der Geldbörse hatte, und reichte ihn widerwillig Michael, zusammen mit dem Foto von Martina.
»Warten Sie hier, Karl. Ich muss mit jemandem reden. Geben Sie mir fünf Minuten.«
Karl wartete, ließ dabei die Geschichte des benachbarten Custom House Revue passieren und stellte sich den viktorianischen Schriftsteller Anthony Trollope vor, wie er im neunzehnten Jahrhundert an seinem Schreibtisch im Postamt des großen Gebäudes saß und sich krumm und bucklig schuftete, bis ihm schließlich der große Durchbruch als Schriftsteller gelang.
Ich wette, du hast auch jede Menge Ablehnungsschreiben bekommen, Tony, alter Knabe. Natürlich nicht waschkörbeweise, so wie meinereiner.
Aus fünf Minuten wurden zehn; statt wie in einem Ofen fühlte sich Karl inzwischen wie in einer Mikrowelle. Schweiß rann ihm den Rücken hinab und sammelte sich zwischen seinen Gesäßbacken. Es kam ihm vor, als hätte er sich bepisst. Und es stank ihm, dass man ihn möglicherweise verarscht hatte. Er überlegte, ob er die Kirche betreten und nach dem langweiligen Abstinenzler Michael suchen sollte, der ihm einen Zwanziger abgeknöpft hatte.
»Tut mir leid, dass es doch etwas länger gedauert hat«, rief Michael, der plötzlich zu einer Nebentür herauskam. »Cathy hat einen tiefen Schlaf. Hinter ihrem Rücken nennt man sie Cathy die Katze, weil sie meist nachtaktiv ist. Sie ist
de facto
unsere Anführerin.« Michaels Grinsen wurde schalkhaft und breit. »Kommen Sie. Aber passen Sie auf, wo Sie hintreten. An manchen Stellen ist es etwas heikel.«
»Wie um alles in der Welt können Sie so leben?«, fragte Karl und stieg über achtlos weggeworfene Kisten mit verdorbenem Obst.
»Als Obdachloser, meinen Sie? Also, freier kann man gar nicht sein. Man kann um Mitternacht durch diese Stadt gehen und muss keine Angst haben, dass man ausgeraubt wird, weil man rein gar nichts besitzt«, sagte Michael lächelnd.
Im Inneren der Kirche herrschte ein organisiertes Chaos aus behelfsmäßig errichteten, wie Ölpfützen verteilten Zelten. Bänke – die wenigen, die sie nicht als Feuerholz verheizt hatten – standen schräg wie gestrandete Kanus an einer Wand. Die geschnitzten Engel und klassischen Götter, die die restlichen Wände und Nischen zierten, machten einen erstaunlich unversehrten Eindruck und blickten auf die zusammengedrängten Massen herab. Den ausgestreckten Armen vergessener Heiliger war es freilich nicht so gut ergangen; sie dienten als Wäscheleinen und Halterungen für Satellitenschüsseln, die tatsächlich Signale für die verschiedenen abgewrackten Schwarz-Weiß-Fernseher empfingen, die unheimlich im Halbdunkel flackerten. Ein großes Kruzifix hing bedrohlich über allem, und der gefolterte Christus schaute auf eine übel zugerichtete Madonna herab, der das halbe Gesicht fehlte.
Karl erinnerte der Gesamteindruck an
Apocalypse Now
, und als Michael ihn zur ehemaligen Sakristei führte, die zu einem behelfsmäßigen Schlafzimmer umgerüstet worden war, hoffte Karl inbrünstig, Cathy die Katze würde sich nicht als Colonel Walter E. Kurtz mit rasiertem Schädel erweisen.
»Cathy?«, flüsterte Michael und klopfte zaghaft an. »Cathy …?«
»Ich habe dich schon beim ersten Mal gehört!«, ertönte eine zischende, schneidende Stimme aus dem Inneren. Danach erst bat die Frau sie herein.
Die spindeldürre Cathy lag auf einer fleckigen, verdreckten Matratze und hatte ihren Kopf auf einem Haufen Kissen aus dem Sperrmüll gebettet. Ihr rotes, fächerförmig drapiertes Haar erinnerte an einen Sonnenaufgang. Die Augen waren grün und leuchtend, wie Absinth. An den Ohrläppchen prangten Ohrringe in Form von Davidssternen. Sie trug ein Anarcho-Oberteil mit einem geborstenen, umgekehrten Champagnerglas und den Worten »Fuck the System« in schwarzen, strategisch zwischen zwei deutlich sichtbaren Brustwarzen positionierten Buchstaben. Verblasste Tätowierungen – die aussahen, als wären sie in einem Gefängnis selbst gemacht worden – zierten ihre
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