Die satten Toten: Ein Fall für Karl Kane (Band 2) (German Edition)
wahren Urwald von Bart im Gesicht und Augen so hart wie Feuersteine kam zur Tür heraus. Die Haut, so weit sichtbar, sah ungesund gelblich aus – genau wie die vereinzelten Zahnstummel. Ein Bluterguss von der Größe einer Babyfaust verunzierte die Stirn. Der Mann trug Kleidungsstücke, die unverkennbar einen Vorbesitzer gehabt hatten; aus einer seiner Taschen ragte eine Flasche Wein.
»Ich … ich habe nur ein paar Fragen«, sagte Karl. »Es geht um ein Mädchen, das vermisst wird …«
»Willste mich verprügeln, du Wichser?«, fragte der Obdachlose und kam schwankend auf Karl zu. »Schlag mich besser tot – sonst bist du nämlich dran! Siehst du?
Siehst du?
Was sagste dazu?« Blitzschnell zog der Mann etwas Langes und Glänzendes aus der Manteltasche.
»Wir wollen doch nichts Dummes oder Voreiliges machen, Freund«, beschwor Karl den Angreifer, folgte den Blicken des Mannes und versuchte gleichzeitig, auf plötzliche Handbewegungen zu achten.
Der Mann gab ein knurrendes Heulen von sich, einem wilden Tier nicht unähnlich. Es sah aus, als würde er mit der Waffe in der Hand zum Sprung ansetzen. Karl wappnete sich.
»Lass den Mann in Ruhe, John-Jack«, sagte ein anderer Obdachloser, der plötzlich zur Tür der Kirche herauskam. »Was hat dieser Fremde dir denn getan?« Der Mann hatte Dutzende kleine Metallringe in den Ohren und einige in der Nase. Das graue Haar hatte er zu einem langen, zerfransten Pferdeschwanz gebunden.
»Er steckt seine große Nase hier rein, das hat er getan. Will wahrscheinlich unsere Vorräte stehlen, Michael«, antwortete John-Jack und hielt den Gegenstand in seiner Hand noch fester. »Wie würde es ihm denn gefallen, wenn einer von uns unerlaubt einen Blick in seine Küche werfen würde?«
Karl hob die Hände. »Du hast hundertprozentig recht, John-Jack«, sagte er. »Dafür entschuldige ich mich. Aber ehrlich gesagt, wusste ich nicht, wie ich sonst jemanden auf mich aufmerksam machen sollte.«
»Okay, John-Jack? Siehst du? Der Mann hat sich entschuldigt. Und jetzt geh wieder rein und iss zu Ende.«
Langsam schlurfte John-Jack zum Eingang zurück, aber zuvor streckte er Karl noch die Zunge heraus. Tomatensauce und Schwären bedeckten die Zunge.
»Er ist harmlos«, erklärte Michael, als John-Jack außer Hörweite war. »Nur ein wenig paranoid. Einer der Risikofaktoren, wenn man obdachlos ist.«
»Ich würde nicht von harmlos sprechen, wenn jemand ein Messer zückt.«
»Messer? Oh … Sie meinen das hier?«, antwortete Michael und ließ den fraglichen Gegenstand sehen: ein mit Alufolie umwickeltes Gummirohr.
Karl kam sich albern vor.
»Es sah so echt aus …«
»Wenn man Angst hat, sieht so manches echt aus. Machen Sie sich nichts daraus. Ein Vorteil am Obdachlosendasein ist, dass einen die Leute
sowieso
für halb verrückt halten. Ein Mythos, der uns hilft, Illusionen zu erwecken, wie zum Beispiel Gummirohre, die zu tödlichen Edelstahlmessern werden. Darum lassen uns die Leute in Ruhe.« Michael lachte ein wenig nervös, dann hielt er Karl die Hand hin. »Michael Graham.«
»Karl Kane«, antwortete Karl, schüttelte Michael die Hand und betrachtete dabei sein Gesicht. Michael sah älter aus, als er war; sein Gesicht wirkte teigig, als hätten sich die Hunde der Armut jeden Knochen darin geholt. Seine Nase war so wulstig wie die eines Boxers. Für Karl stellte Michaels Gesicht die Landkarte eines harten, entbehrungsreichen Lebens dar.
»Was kann ich für Sie tun, Karl? Nehmen Sie es mir nicht übel, aber Sie sehen nicht aus, als wollten Sie sich unserer Nomadenfamilie anschließen.« Die Augen in dem verwitterten Gesicht strahlten.
»Ich bin Privatdetektiv«, sagte Karl, fischte eine Visitenkarte aus der Tasche und gab sie Michael. »Ich suche nach einem Mädchen, das seit fast zwei Wochen vermisst wird.« Karl hielt das Foto von Martina Ferris hoch. »Haben Sie die hier schon mal gesehen?«
Michael holte eine dicke Brille aus der Jackentasche und betrachtete das Foto.
»Meine Augen sind nicht mehr die besten. Und das Foto ist ziemlich körnig.«
»Zugegeben, es ist nicht das beste Foto, aber ein anderes habe ich momentan nicht.«
Michael betrachtete die Fotografie erneut. »Sie kommt mir irgendwie bekannt vor. Haben Sie Geld dabei?«
»Nur Kleingeld. Sie ziehen dann aber nicht los und betrinken sich, oder?«, fragte Karl und bedauerte die Frage, kaum dass er sie gestellt hatte.
»Ah, noch so ein Mythos. Alle Obdachlosen sind Trunkenbolde und Diebe. In
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