Die satten Toten: Ein Fall für Karl Kane (Band 2) (German Edition)
dein letztes Wort ist«, sagte Jesus und blickte himmelwärts. »Applaus für diesen störrischen Unglauben. Lasset die Posaunen von Jericho erschallen!«
Obwohl die nervtötende Stimme direkt in Karls Kopf drang, hörte er noch andere Geräusche, reißende, kratzende Laute, als würden sich Rippen gewaltsam ausdehnen und ihre Hülle aus Fleisch zerreißen. Unvermittelt bröckelten die Mauern der alten Kirche. Die nackten Cherubim flüchteten zum sicheren Deckengewölbe. Das große Kruzifix, das von der Decke hing, schmolz in erschreckendem Tempo und bildete eine Pfütze auf dem Boden, die die Form eines Fragezeichens annahm.
Blut ergoss sich wie ein Sturzbach aus Jesus’ Wunden.
Die Farbe Rot war allgegenwärtig. Wein. Blut. Kerzen. Augen. Karl musste weg von diesem Wahnsinn. Er versuchte, ins Freie zu stolpern, als er das Geräusch von oben hörte. Plötzlich wurde es dunkel, Beton regnete vom Himmel, und mit einem Mal war die Hölle los.
Ein Teil der Decke erwischte ihn an der Stirn.
Kapitel Fünfundzwanzig
»Die Nacht, die Mutter aller Ängste und Geheimnisse, kam über mich.«
H.G. Wells, Der Krieg der Welten
Karl torkelte wie ein Betrunkener die Hill Street hinab. Zweimal stolperte er fluchend über das Kopfsteinpflaster unter seinen Füßen, bis er schließlich vor der Tür seines Büros stand.
Seine Hand zitterte so sehr, dass er kaum den Schlüssel ins Schloss bekam. Um ihn herum lösten sich die Schatten der Nacht langsam auf. Die Dämmerung zog herauf.
»Na los, du Aas, geh rein«, zischte er und sah nach links und rechts, während der Schlüssel scheinbar immer größer und klobiger wurde und sich kaum noch halten ließ.
Glücklicherweise war die schmale Straße menschenleer – soweit er es erkennen konnte –, doch das Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sich nicht abschütteln, bis der Schlüssel schließlich im Schloss steckte.
Im dunklen Flur lehnte er sich an die Tür und hielt den Atem an.
Schritte? Näherte sich jemand?
Poch, poch, poch
, machte sein Herz.
Es schien, als würde der Flur immer dunkler werden; er schwankte wie ein Boot in rauer See. Übelkeit stieg in Karl empor. Er fürchtete, dass er jeden Moment einen Ohnmachtsanfall bekommen würde.
Atme, Herrgott noch mal! Deine verdammte Fantasie trübt dir die Wahrnehmung.
Er atmete hastig ein und ließ Luft in die brennenden Lungen einströmen, bis diese alles aus seinem Kopf löschte.
»Ruhig … ruhig …« Die Übelkeit ließ nach.
Er stützte sich ab und tastete sich zum Badezimmer, wo er behutsam die Tür schloss, ehe er das Licht einschaltete.
Scheiß die Wand an …
Seine Kleidung blutig und zerrissen.
Zögernd sah er in den Wandspiegel linker Hand.
Scheiße!
Das Gesicht eines Fremden blickte ihm entgegen; ein blutiges, aschfahles Gesicht mit blutbesudelter, geschwollener Haut. Er sah fehl am Platze aus, wie ein Trauernder auf der falschen Beerdigung.
Karl drehte den Wasserhahn auf, hielt die hohlen Hände darunter und schlürfte Wasser. Als er fertig war, drückte er Zahnpasta aus der Tube auf den Zeigefinger und rieb die zähe Masse fest über die Zähne.
Er schälte sich aus der blutigen Kleidung, ließ sie auf dem Boden liegen, stellte sich unter die Dusche und ließ sich von dem kalten Wasser beleben.
»Karl? Bist du das?«, hörte er Naomis Stimme gedämpft durch die Tür.
Scheiße!
»Ja … ja. Liebste …«
»Warum ist die Tür abgeschlossen?«
Er hörte, wie sie gegen die Tür drückte und sich an der Klinke zu schaffen machte.
Denk nach!
»Ich … ich hab gerade einen Wahnsinnsschiss in die Schüssel gedrückt. Den dürften sie noch in Bangor riechen.«
»So genau wollte ich’s nicht wissen, schönen Dank«, antwortete Naomi mit angewiderter Stimme. »Es ist fast fünf Uhr morgens. Wo warst du?«
»Ich war … unterwegs.«
»Ich bin nicht in Stimmung für deinen Sarkasmus, Karl. Warum duschst du um diese Zeit?«
»Ich …«
Denk nach, Herrgott noch mal!
»Ich … ich bin bei der Saint Anne’s Cathedral ausgerutscht und gegen einen Laster gefallen. Irgendein Dummkopf hat Holzlatten geladen und überstehen lassen. Fast hätte ich mir den Hals gebrochen. Ich hab mir das Gesicht ein bisschen zerkratzt …«
»Mein Gott, Karl! Geht es dir gut?«
»Ja … nur ein paar Kratzer und Blutergüsse. Es geht mir sicher viel besser, wenn ich den Hennessy trinke, den du im Schlafzimmer für mich eingeschenkt hast«, antwortete er und versuchte verzweifelt, unbekümmert und fröhlich zu
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