Die satten Toten: Ein Fall für Karl Kane (Band 2) (German Edition)
wiederhaben.«
»Okay, aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.«
»Wieso haben Sie es sich anders überlegt?«, fragte Karl, der unverhohlene Erleichterung empfand.
Sekunden herrschte ein zögerliches Schweigen am anderen Ende der Leitung, dann sagte Brendan Burns: »Ich hatte Bedenken, aber ich habe gestern Abend mit Claire gesprochen. Sie sagte, wenn Patricia sich irgendwo da draußen in der Gewalt eines Monsters befinden würde, hätte sie auch gern, dass ihr jemand hilft.«
»Bitte … bitte danken Sie Claire von mir, Brendan. Ich freue mich, dass sie Sie umstimmen konnte. Ich weiß, wie schwer das gewesen sein muss – für Sie beide.«
»Ihnen ist klar, dass es schwierig werden wird, ins Crum einzudringen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen? Der Abschnitt in der Antrim Road wird vom dortigen Polizeirevier aus überwacht. Wir müssen einen Weg auf der Rückseite finden. Das wird kniffelig.«
»Den Weg kenne ich bereits. Ein guter Freund.«
»Kann man diesem
guten Freund
vertrauen?«
»
Ich
vertraue ihm.«
»Okay, aber er wird nichts von mir erfahren. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Ich muss Ihnen noch etwas sagen.«
»Das wäre?«, fragte Karl.
»Wenn Katie da drin ist, ist sie vielleicht nicht mehr am Leben.«
Plötzlich herrschte Stille in der Leitung.
»Das ist Ihnen doch klar, oder?«, beharrte Brendan.
»Wo treffen wir uns?«, fragte Karl, der der unheilvollen Frage damit auswich.
»Parken Sie Ihr Auto am Anfang der Antrim Road, beim Carlisle Circus. Dort gibt es ein kleines Café namens T 42 , nicht weit von der Ulster Bank, an der Ecke. Wir treffen uns morgen Abend um acht Uhr in diesem Café. Kommen Sie nicht zu früh und nicht zu spät.«
»Brendan?«
»Ja?«
»Danke.«
»Heben Sie sich Ihren Dank eine Weile auf. Noch haben wir gar nichts erreicht.«
»Sie haben mir wieder Hoffnung gegeben. Das vergesse ich Ihnen nie, ganz gleich, wie die Sache ausgeht.«
Kapitel Dreiundvierzig
»Hinab zur Höll! und sag, ich sandte dich.«
William Shakespeare, Heinrich
VI
.
Obwohl der Sommer gerade seinen Zenit erreicht hatte, herrschte eine seltsame herbstliche Dunkelheit am Nachthimmel von Belfast, als das Trio die Crumlin Road hinauf zum anvisierten Ziel ging. Die Haut der Nacht war kupfer- und lilafarben, wie ein riesiger Rorschach-Tintenklecks. Karl fand, dass der Kupferfarbton wie die Augen eines Toten aussah.
»Seltsamer Himmel«, sagte Willie, als hätte er Karls Gedanken gelesen.
Karl nickte zustimmend, sagte aber nichts.
Brendan sagte auch nichts; ihn schienen offenkundig andere Themen als der Wetterumschwung zu beschäftigen. Er trug einen ramponierten marineblauen Rucksack auf dem Rücken.
Karl kam das nächtliche Dunkel auf eklige Weise substanziell vor, wie schwarzer Haferbrei, der über einen Topfrand quillt. Er erschauerte, als wäre er in einem grotesken Gemälde gefangen, das der sterbende Künstler nicht mehr vollenden konnte. Die verfallenen Häuser beiderseits der Crumlin Road trugen wenig dazu bei, seine Stimmung aufzuhellen.
»Sieht nach Regen aus«, fuhr Willie fort, der ein wenig nervös aussah. »Hat seit fast sechs Wochen nicht mehr geregnet, aber jetzt sieht es aus, als würde es heute Nacht noch in Strömen gießen. Aber dann sind auch weniger Leute unterwegs.«
Weder Karl noch Brendan antworteten.
»Was ist in dem Rucksack, Großer?«, fragte Willie und wies mit einem Nicken zu Brendan.
»Proviant«, antwortete Brendan frostig.
»Weißt du nicht mehr, was ich dir gesagt habe, Willie?«, sagte Karl. »Keine Fragen.«
Bevor Willie antworten konnte, riss plötzlich der Himmel auf und zwang die Dreiergruppe, schneller zu gehen.
Keine fünf Minuten später standen sie im Schatten der Mauern des viktorianischen Gefängnisses, wo sich der Regen auf dem Dach eines halb verfallenen Wachlokals sammelte und wie ein Sturzbach auf sie herunterprasselte.
»Wir sind da, Jungs«
,
flüsterte Willie, und wie auf Kommando blickten alle drei nach oben, als wollten sie das riesige Gebäude mit Blicken durchbohren.
Am 31 . März 1996 hatte der letzte Direktor des Belfaster Gefängnisses in der Crumlin Road die festungsartige Anlage verlassen, und das schwere Tor mit seiner Schleuse war zum letzten Mal ins Schloss gefallen. Damit war eine hundertfünfzigjährige Geschichte von Inhaftierungen, Aufständen und Hinrichtungen zu Ende gegangen. Für die meisten Bewohner von Belfast – und den Rest des Landes – war das Gefängnis in der Crumlin Road ein
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