Die satten Toten: Ein Fall für Karl Kane (Band 2) (German Edition)
schien ihm wenig verlockend.
Fünf Minuten später stellte er das Wasser ab, trocknete sich ab, zog sich an, schluckte zwei Schmerztabletten und ging langsam nach unten in sein Büro.
»Lass den Mann bitte rein, Naomi«, sagte Karl und setzte sich, wobei er leicht das Gesicht verzog.
Sekunden später trat ein außerordentlich großer, durchtrainierter Mann ein. Sein pechschwarzes Haar war an den Schläfen leicht graumeliert. Er war auf eine rustikale Weise schön und hatte tief in den Höhlen liegende, dunkle Augen. Das Flussbett einer tiefen Narbe lief an seinem Gesicht hinab und am Kinn wieder aufwärts bis zur Lippe, als wäre sein Gesicht einmal in zwei Teile zerschnitten worden. Der Mann wirkte auf Karl beunruhigend, in seiner Miene lag etwas Greifbares und dennoch irritierend Unbestimmtes. Er sah aus, als sollte man sich besser nicht mit ihm anlegen, und besaß das Selbstvertrauen eines Unantastbaren. Und dennoch schien es, als wäre alles Leben aus ihm gewichen.
»Sieht ganz schön übel aus«, sagte der Mann.
»Ein Widerspruch in sich«, sagte Karl. »Ich hab beim Rasieren nicht aufgepasst und mich etwas geschnitten.«
»Verstehe. Ich habe auch oft schon nicht aufgepasst in meinem Leben.«
»Möchten Sie sich nicht setzen?«, fragte Karl.
Für einen so großen Mann bewegte er sich mit erstaunlich knappen Bewegungen, als er sich einen Stuhl heranzog und gegenüber von Karl Platz nahm.
»Sie sagten, Sie sind vom FBI ?«, fuhr Karl fort.
»Fucking Big Irishman«, sagte der Mann und lächelte gepresst. »Bitte entschuldigen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken.«
»Mich erschrecken? Inwiefern?«
»Ich glaube, die gehört Ihnen?«, antwortete er, nahm eine Visitenkarte aus der Tasche und legte sie auf den Tisch.
Karl hob sie auf. Seine Visitenkarte.
»Erwischt«, sagte Karl. »Aber ich bin sicher, Sie haben nicht den weiten Weg auf sich genommen, nur um mir eine Visitenkarte wiederzubringen, Mister …?«
»Burns. Brendan Burns.«
Plötzlich trommelte Karls Herz wie Platzregen auf einem Blechdach.
Kapitel Einundvierzig
»Ein Elend, nicht zu beschreiben,
Verbirgt sich im Herzen der Liebe.«
W.B. Yeats, Das Elend der Liebe
»Zuerst einmal möchte ich mich für Cormacs Übereifer vor drei Tagen entschuldigen«, sagte Brendan Burns. »Er meint es nur gut.«
»Cormac? Sie meinen Stiernacken mit den Dumdumgeschossen? Wenn das seine Version von ›gut meinen‹ war, dann will ich nicht wissen, wie es den Unglücklichen ergeht, die die Ponderosa betreten, wenn er es schlecht mit ihnen meint.«
»Ich nehme an, Sie verklagen ihn?«
»Sind Sie darum hier, um mir eine Visitenkarte zu bringen und mich zu bitten, dass ich Ihrem übereifrigen Freund eine Anklage wegen versuchten Mordes erspare?«
»Auch, aber in erster Linie wollte ich wissen, warum Sie nach mir gefragt haben.«
Karl zögerte ein paar Sekunden. »Ich brauche Ihre Hilfe.«
»Was für Hilfe?«
»Um meine Tochter zu finden.«
Burns setzte eine verwirrte Miene auf. »Ihre Tochter? Ich verstehe nicht.«
»Sie wurde vor über einer Woche entführt. Ich vermute, sie wird im Gefängnis in der Crumlin Road gefangen gehalten.«
»Crumlin Road … jetzt erinnere ich mich an Sie. Sie waren vor ein paar Tagen, nach der großen Suchaktion im Crum, in den Nachrichten. Das war Ihre Tochter? Tut mir wirklich leid, das zu hören, aber inwiefern kann ich Ihnen helfen?«
»Die Polizei behauptet, dass sie jeden Zentimeter des Gefängnisses drei Tage lang gründlich durchsucht hat. Sie haben sogar die alten zugemauerten Fluchttunnel geöffnet.«
»Das hört sich an, als hätten sie an so gut wie alles gedacht. Wie könnte ich da helfen?«
»Sie sind der größte Experte, was dieses Gefängnis betrifft. Sie haben sozusagen immense Erfahrungen in der Arbeit unter Tage. Sie kennen jeden Winkel da drin – und ich meine
jeden
. Sie sind der Meister unter den Tunnelbauern gewesen. Jeder Fluchttunnel, der jemals im Gefängnis Crumlin Road gegraben wurde, geht auf Sie zurück.«
»Sie sollten nicht alles glauben, was Sie hören, Mister Kane – schon gar nicht von Ihren Freunden bei der Polizei.«
»Es ist eine Tatsache, und eine Bitte. Wenn jemand alle Geheimnisse dieser Albtraumanlage kennt, dann Sie.«
»Mir scheint, Sie haben Ihre Hausaufgaben gemacht. Aber ich will Sie mit einer kleinen Information schockieren. Ich habe meine Hausaufgaben ebenfalls gemacht. Sie sind der Schwager von Mark Wilson. Korrekt?«
Karl zögerte, bevor er antwortete.
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