Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
hatte. Dabei wusste Frau Kramer teilweise besser Bescheid über die Fehltritte ihres Mannes als dieser selbst: »Das war nicht die Inge, mit der du an Hubis Geburtstag im Keller warst. Das war die Rita! Deshalb hab ich doch dann mit dem Ralf …«
Das war Herrn Kramer neu. »Mit dem Ralf?!?«, polterte er. »Ja, spinnst du? Und was hat das mit der Rita zu tun?«
Die weibliche Logik erschloss sich ihm nicht. Frau Kramer rollte nur mit den Augen und argumentierte damit, dass sie noch »locker mit dem ganzen Kegelclub in den Swingerclub gehen« könnte, da Herr Kramer zahlenmäßig in puncto sexueller Verfehlungen wohl einen deutlichen Vorsprung hatte. Zumindest ihrer Rechnung nach. Herr Kramer sah dies ganz anders.
Zwischen den beiden entbrannte ein wildes Wortgefecht.
Einigkeit herrschte bei den Eltern aber sofort, als das Gespräch auf die Fragestellung des Gerichts kam: Schuld an allem seien nur die blöden Lehrerinnen in der Schule, die sich an die noch viel blödere Frau vom Jugendamt gewandt hätten und nun gemeinsam lauter Lügen über sie verbreiten würden, die das ebenfalls blöde Gericht offenbar auch noch glaube. Sie seien ganz tolle Eltern, und ihren Kindern fehle es an absolut nichts. Jeder bewundere sie dafür, wie toll sie mit den Kindern umgehen könnten, und alle Vorwürfe der Lehrerinnen und des Jugendamtes seien ganz böse Lügen. So! Damit sei alles gesagt, ob ihre Verwandten jetzt endlich wieder reinkommen könnten?
Es wurde eine etwas mühsame Begutachtung, die aber für alle Beteiligten zufriedenstellend endete.
Bei Familie Kramer wurde eine Familienhilfe eingesetzt. Frau Hettler war eine resolute Frau Ende fünfzig, die je nach Situation einfühlsam sein oder aber höchst effektvoll lospoltern konnte. Herr und Frau Kramer sowie der Großteil ihrer Verwandtschaft kamen gut mit Frau Hettler aus und konnten erstaunlich viele ihrer Verbesserungsvorschläge umsetzen. Zwar blieb es dabei, dass sich meist Unmengen an Menschen in der Wohnung aufhielten, aber Frau Hettler hatte so etwas wie Struktur und sogar ein gewisses Verständnis für kindliche Bedürfnisse in die Familie gebracht.
Für Jasmin und Jason war Frau Hettler ein echter Glücksfall. Und ich wünschte, es gebe mehr von ihrer Sorte. Dass Frau Hettler allerdings wirklich jemals herausfand, wer mit wem in welcher verwandtschaftlichen Beziehung stand, zweifle ich stark an.
Keine Chance
Ich war sechzehn, als ich den Joel bekommen hab. Na klar war das zu früh. Aber was hätte ich denn machen sollen? Ich hab es viel zu spät gemerkt. Und selbst wenn ich es gleich gewusst hätte, ich glaube, ich hätte keine Abtreibung gewollt. Das ist doch irgendwie … So was finde ich nicht gut. Ich hab mich dann irgendwann auch gefreut auf ihn. Na ja, also, ich hab mir das nicht so anstrengend vorgestellt mit einem Baby. Das geb ich ja zu. Aber ich hab mich nach der Geburt immer gut um ihn gekümmert. Mir ging es nur so schlecht. Und dann musste ich einfach raus. Aber da war Joel bei meiner Freundin. Ich hab ihn nie alleine gelassen. Und ich hab immer geschaut, dass es ihm gutgeht. Wirklich! Das macht mich verrückt, dass mir niemand glaubt!«
Steffi Sander war mittlerweile zweiundzwanzig und hielt ihre elf Monate alte Tochter Lilly im Arm.
»Wissen Sie, seitdem Lilly da ist, ist alles noch schlimmer geworden. Ich hab irgendwie gedacht, dann bin ich nicht mehr so traurig, weil ich abgelenkt bin und ja Lilly hab. Aber so ist es nur manchmal. Ich muss jetzt eigentlich viel mehr an Joel denken als vorher. Weil er doch zur Familie gehört. Er sollte hier sein. Bei uns.«
Lilly brabbelte bestätigend und grinste ihre Mutter an. Frau Sander lächelte zurück und sprach kurz mit ihrer Tochter, bevor sie sich wieder mir zuwandte.
»Es ist einfach nicht richtig, dass Joel nicht hier ist. Es war nie richtig. Aber jetzt ist es einfach … unerträglich. Wir sind keine schlechten Eltern!«
Den Eindruck hatte ich auch.
Ich hatte in den vergangenen zwei Stunden erlebt, wie fürsorglich, liebevoll und verantwortungsbewusst Frau Sander und ihr Mann Ron mit Lilly umgegangen waren. Sie waren meilenweit davon entfernt, schlechte Eltern zu sein.
Herr Sander kam aus der Küche, stellte sich hinter seine Frau, die mir gegenüber am Tisch saß, und legte ihr seine Hände auf die Schultern. Sie griff mit ihrer rechten seine linke Hand und drückte sie. Die junge Frau holte tief Luft, hatte Tränen in den Augen und wiederholte: »Wir sind keine schlechten
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