Die Schakkeline ist voll hochbegabt, ey: Aus dem Leben einer Familienpsychologin (German Edition)
kümmerte sich nur rudimentär um ihren Sohn. Sie ließ ihn mehrfach nachts alleine und zeigte deutlich, dass sie nicht dazu bereit war, Verantwortung für Joel zu übernehmen. Sie leidet unter einer psychischen Störung und ist insgesamt von ihrer Persönlichkeitsstruktur her unreif und labil. Es ist nicht davon auszugehen, dass Frau Sander jemals dazu in der Lage sein wird, sich ausreichend um ihren Sohn zu kümmern.«
Das Familiengericht wurde eingeschaltet. Im Alter von fünf Wochen wurde Joel in einer Pflegefamilie untergebracht.
Frau Sander war wieder ins Zimmer gekommen und setzte sich an den Tisch.
»Das Gute an dem Gerichtstermin war, dass wir uns wiedergesehen haben. Wir hatten vorher kaum Kontakt, weil wir beide einfach total am Ende waren. Dann die Entfernung und alles … Erst im Gerichtssaal, als es hieß, dass uns Joel weggenommen wird und wir ihn nur alle sechs Monate für eine Stunde sehen dürfen, da sind wir irgendwie ein bisschen aufgewacht.«
»Und haben wenigstens uns wiedergefunden«, ergänzte Herr Sander und sah seine Frau liebevoll an.
Der Eindruck, den ich beim Lesen der Gerichtsakte bekommen hatte, bestätigte sich hier im Gespräch mit den jungen Eltern: Eine wirkliche Chance hatten die beiden nicht bekommen. Ich hatte schon während des Gespräches diverse Ideen gehabt, wie man hätte eingreifen und helfen können. Diese Ideen mussten doch auch in den Köpfen der damals beteiligten Fachleute gewesen sein. Warum hatte man die beiden nicht mehr unterstützt? Weshalb hatte man Joel sofort in einer Pflegefamilie untergebracht, ohne zu versuchen, ob es mit anderen oder intensiveren Hilfen noch eine Möglichkeit gab, ihn bei seinen Eltern aufwachsen zu lassen? Warum wurde er sofort in einer Pflegefamilie und nicht erst einmal in einer Bereitschaftspflegefamilie untergebracht? Und mit welcher Begründung durften die Eltern ihren Sohn nur alle sechs Monate sehen?
Ich benötigte dringend ein Gespräch mit dem damals zuständigen Jugendamt.
Frau Gruber konnte sich noch gut an den Fall »Joel« erinnern und war gerne bereit, Auskunft zu geben.
»Ja, das war ja von Anfang an klar, dass das nicht klappt. Das Mädchen war ja viel zu jung. Mit sechzehn kann man doch kein Kind bekommen! Und dann war sie ja auch noch depressiv. Also, ich bitte Sie. Psychisch krank und minderjährig. Das ist doch nichts für ein Kind. Sie wollte den Jungen ja auch gar nicht wirklich. Im Grunde haben wir ihr einen Gefallen getan. Und für Joel haben wir eine ganz reizende Pflegefamilie gefunden, die sich schon lange einen kleinen Jungen gewünscht hatte.«
Auf meine vorsichtige Frage, ob man der Mutter und auch dem Vater nicht vielleicht noch ein Hilfsangebot hätte machen können, reagierte Frau Gruber mit einem hysterischen Lachen.
»Das soll ja wohl ein Witz sein! Ich weiß ja nicht, wie viel Berufserfahrung Sie schon haben, aber ich kann Ihnen versichern: Minderjährige Mütter sind nie gut für Kinder. Nie! Und der Vater … Der war ja auch völlig daneben. Er wollte seinen Sohn ja gar nicht auf dem Arm halten. Null Interesse hatte der. Ach, was erkläre ich hier noch? Ich mache diesen Job seit über zwanzig Jahren, und ich weiß, was ich tue. Das war so das Beste für das Kind. Minderjährige Eltern … Also, ich bitte Sie! Vielleicht machen Sie mal ein Praktikum beim Jugendamt und sammeln ein wenig Erfahrung, gute Frau. Und jetzt stehlen Sie mir nicht länger meine Zeit!«
Sie legte auf.
Ich wählte erneut.
»Frau Gruber, hier noch einmal Seeberg …«
»Ich habe wirklich keine Zeit mehr, Frau Seeberg. Und ich habe Ihnen auch alles gesagt. Ich verstehe wirklich nicht, was Sie noch wollen.«
»Mir ist klar, dass Sie keine Zeit haben. Deshalb bitte ich Sie, mir die entsprechende Akte zur Einsicht zur Verfügung zu stellen. Ich würde dann nächste Woche vorbeikommen.«
»Das können Sie vergessen!«
Sprach es und legte abermals auf.
Das war nun wirklich unglaublich.
Ich war wütend, denn mir war klar, dass das Jugendamt mir keine Einsicht in seine Akten gewähren muss, wenn es das nicht will. Theoretisch. Praktisch passiert war mir das aber noch nie. Bislang hatte sich jeder Jugendamtsmitarbeiter zumindest so kooperativ gezeigt, dass er mich in die Akte schauen und die nötigen Kopien machen ließ.
Und Frau Grubers Verhalten bestärkte mich in meinem Verdacht, dass die jungen Eltern keine wirkliche Chance bekommen hatten. Frau Gruber entsprach auf eine sehr traurige Art dem Klischee
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