Die Schandmaske
nicht schlecht den gutturalen Dialekt des alten Mannes nach. » Wo ist denn heut die hübsche junge Frau Doktor? sagte er. Ich möcht, dass sie das macht! «
»Was denn?«
Robin grinste. »Dass du das Furunkel an seinem Hintern untersuchst. Dieser alte Lustmolch. Wenn du tatsächlich dagewesen wärst, hätte er dir wahrscheinlich noch eins präsentiert, vermutlich unter den Hoden. Dann hättest du ihn da abtasten dürfen, und er wäre in Ekstase gefallen.«
Ihre Augen blitzten. »Und das Ganze kostenlos. Wo Sexmassagen doch so teuer sind.«
»Das ist ja ekelhaft. Soll das heißen, dass er so was schon mal versucht hat?«
Sie lachte. »Nein, natürlich nicht. Er kommt immer nur, um ein bisschen zu schwatzen. Er meinte wahrscheinlich, er müsste dir irgendwas bieten. Der arme alte Kerl. Du hast ihm bestimmt richtig die Meinung gegeigt.«
»Stimmt. Du bist viel zu entgegenkommend.«
»Aber manche von ihnen sind doch so einsam. Wir leben in einer schrecklichen Welt, Robin. Keiner hat mehr Zeit zuzuhören.« Sie spielte mit ihrem Füller. »Ich war heute auf der Beerdigung von Mathilda Gillespie, und ihre Enkelin fragte mich, warum sie sich das Leben genommen hat. Ich sagte ihr, ich wisse es nicht, und das geht mir seitdem ständig im Kopf herum. Ich müsste es wissen. Sie war meine Patientin. Wenn ich mir die Mühe gemacht hätte, ein bisschen mehr auf sie einzugehen, wüsste ich es.« Sie warf ihm einen Blick zu. »Meinst du nicht?«
Er sch üttelte den Kopf. »Auf den Weg solltest du dich lieber nicht begeben, Sarah. Das ist eine Sackgasse. Schau mal, du warst ein Mensch unter vielen, die sie kannte und mit denen sie gesprochen hat, mich eingeschlossen. Die Verantwortung für diese alte Frau lag nicht allein bei dir. Ich würde sogar sagen, dass du überhaupt keine Verantwortung für sie hattest, es sei denn im medizinischen Bereich, und nichts, was du ihr verschrieben hast, hat zu ihrem Tod beigetragen. Sie ist am Blutverlust gestorben.«
»Aber wo zieht man die Grenze zwischen Beruf und Freundschaft? Wir haben viel miteinander gelacht. Ich glaube, ich war einer der wenigen Menschen, die ihren Humor schätzten, wahrscheinlich weil er mit dem von Jack so viel Ähnlichkeit hatte. Bissig, oft grausam, aber witzig und geistreich. Sie war eine moderne Dorothy Parker.“
»Nun werd bloß nicht sentimental! Mathilda Gillespie war eine alte Hexe erster Güte, und bild dir ja nicht ein, sie hätte dich als gleichgestellt betrachtet. Jahrelang, bis zu dem Tag, an dem sie das Wing Cottage verkaufte, weil sie Geld brauchte, mussten Ärzte, Anwälte und Buchhalter das Haus durch den Lieferanteneingang betreten. Hugh Hendry war oft genug fuchsteufelswild darüber. Er sagte, sie sei die unhöflichste Person, der er je begegnet sei. Er konnte sie nicht ausstehen.«
Sarah lachte geringsch ätzig. »Wahrscheinlich weil sie ihn Doktor Dolittle nannte. Ganz offen. Ich hab sie mal gefragt, ob sie damit seine Berufseinstellung beschreiben wollte, und sie sagte: Nicht allein. Er hat mit Tieren mehr gemein als mit Menschen. Er war ein Esel .«
Robin lachte. »Ja, Hugh war wirklich der faulste und unfähigste Arzt, der mir je untergekommen ist. Ich hab irgendwann mal vorgeschlagen, wir sollten seine Qualifikationen überprüfen, weil ich nicht glaubte, dass er überhaupt welche hatte, aber so was ist natürlich ein bisschen schwierig, wenn der Betreffende der Seniorpartner ist. Uns blieb nichts andres übrig, als in den sauren Apfel zu beißen und auf seinen Ruhestand zu warten.« Er neigte seinen Kopf leicht zur Seite. »Und wie hat sie dich genannt, wenn sie ihn Doktor Dolittle nannte?«
Sie dr ückte einen Moment ihren Füller an ihre Lippen und starrte an ihm vorbei ins Leere. Ihr Blick war tief beunruhigt. »Sie war ganz besessen von dieser verdammten Schandmaske. Es war richtig ungesund, wenn ich's mir jetzt überlege. Einmal wollte sie mich unbedingt überreden, sie aufzusetzen, damit ich am eigenen Leib spüre, wie sich das anfühlt.«
»Und hast du sie aufgesetzt?«
»Nein.« Sie schwieg einen Moment nachdenklich. »Aber sie selbst hat sie oft aufgesetzt, um sich von ihren Schmerzen abzulenken - als Pendant gewissermaßen. Darum sprach ich eben von krankhafter Besessenheit. Sie trug das Ding wie zur Strafe, wie ein härenes Hemd. Und als ich den ganzen Mist absetzte, den Hendry ihr verschrieben hatte, und die Schmerzen wenigstens soweit eindämmen konnte, dass sie halbwegs erträglich wurden, fing sie an, mich im
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