Die Schatten des Mars
verklungen war. Dann verlor sie auch schon das Gleichgewicht und sah, wie der Boden langsam, fast wie in Zeitlupe, auf sie zustürzte. Doch es gab keinen Aufprall, keinen Schmerz, nicht einmal eine Berührung. Die Schatten fingen sie auf, hüllten sie in ein warmes, dunkles Gewand und nahmen sie mit sich als eine der Ihren.
Es gibt eine kleine, verborgene Schlucht, nur ein Dutzend Meilen von der Stadt entfernt, die das »grüne Tal« genannt wird.
Dort wird es stets ein wenig zeitiger Frühling als an jedem anderen Ort des Planeten. Dann schießt das hartblättrige Marsgras wie Unkraut aus dem morgenfeuchten Sand, und innerhalb weniger Stunden färbt sich das Tal grün. Einige Tage später findet man dort sogar Blumen: weiße Sternblüten, die aussehen wie winzige Anemonen, und leuchtend gelbe Wildnesseln. Die Wissenschaftler begründen dieses Phänomen mit Begriffen wie »Mikroklima«, »Sauerstoffkavernen« und »Grundwasseranomalien«, aber darüber lächeln die Einheimischen nur. Sie wissen, daß es ein magischer Ort ist.
Die meisten sind schon einmal dort gewesen, um sich an diesem Grün satt zu sehen, das den Augen wohltut und tausend Erinnerungen weckt. Sie haben das Rauschen des Windes gehört, das hier so klingt wie sanfter Wellenschlag. Und sie haben geträumt, noch viele Nächte danach, von einem Tal wie diesem, mit blühenden Uferwiesen und einem Fluß, in dem sich das Blau des Himmels spiegelt.
Es ist ein magischer Ort.
Im Sommer treffen sich hier manchmal die Angehörigen der russischen Kolonie – Minenarbeiter und Techniker die meisten, die der Krieg in die Fremde getrieben hat. Sie kommen mit selbst zusammengebastelten Jeeps, die kleinen Panzerwagen ähneln, und bringen Campingstühle, Luftmatratzen, Holzkohlengrills, Kisten mit Selbstgebranntem und bunt gekleidete Frauen mit.
Wenn es dunkel wird, rücken sie enger zusammen und summen die alten Melodien mit, die aus den Lautsprechern der mitgebrachten Musikanlage erklingen. Und manchmal, an glücklichen Tagen, hat ihre Beschwörung Erfolg, und sie sehen eine weiß gekleidete Gestalt über die nachtdunklen Wiesen tanzen. Es ist Lena – natürlich – und sie schauen ihr zu, wortlos, selbstvergessen, und es ist wie ein Stück Heimkehr.
Wenn die Musik verklungen ist, weinen die Frauen ein bißchen, und die Männer betrinken sich sorgfältig und ohne unangemessene Eile. Irgendwann werden sie müde; dann verstauen die Frauen sie zusammen mit den Grills, Campingstühlen und Luftmatratzen auf den Rücksitzen der Fahrzeuge und setzen sich ans Steuer. Motoren heulen auf, und wenig später liegt das grüne Tal, das sie Sad Jeleny – Lenas Garten – nennen, wieder still und schattenschwer im kalten Licht der Sterne.
Der traurige Dichter
Der Dichter lebte in einem kleinen Haus am Ufer des Sandmeeres. In windstillen Nächten konnte er es atmen hören wie ein gewaltiges Tier, das seit Millionen Jahren schlief.
Neben dem Wohngebäude stand ein gläsernes Gewächshaus, in dem der alte Mann nicht etwa Obst und Gemüse züchtete wie andere Kolonisten, sondern Sonnenblumen. Das hatte sich als ein anspruchsvolles Unterfangen erwiesen, denn die empfindlichen Pflanzen benötigten vor allem eines: Licht. So hatte es lange gedauert, bis es dem Einsiedler gelungen war, mit Hilfe einer komplizierten Anordnung von Quarzlampen und Sonnensteinen die ersten Exemplare zur Blüte zu bringen. Seither erstrahlte das Gewächshaus tagein, tagaus im Glanz winziger elektrischer Sonnen – ein gelber Lichtfleck, der selbst tagsüber meilenweit zu sehen war.
Dennoch erhielt der traurige Dichter nur selten Besuch, denn die nächste Siedlung lag mehr als eine Tagesreise entfernt. Zumeist waren es Steinsucher, die mehr oder weniger zufällig zu dem Anwesen des Einsiedlers gefunden hatten. Die Männer waren oft wochenlang allein mit ihren Wühlhunden unterwegs und ließen sich nicht lange bitten, wenn der Dichter sie auf ein Glas Wein in sein Gewächshaus einlud.
Dort saßen sie dann auf Gartenstühlen inmitten der Sonnenblumen, tranken und schauten hinaus auf das Sandmeer, über das in der Ferne Staubteufel tanzten. Die Männer sprachen wenig. Sie wußten, daß jedes unbedachte Wort den Zauber des Augenblicks zerstören konnte. Der Hausherr erkundigte sich nicht nach ihrem Woher und Wohin, und sie hüteten sich, ihn nach seinen Plänen zu fragen. Manchmal kam auch ein Tauschgeschäft zustande, das jedoch eher Ausdruck der gegenseitigen Wertschätzung war, als daß
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