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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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geblieben war. Angesichts des mäßigen Erfolgs seiner letzten Veröffentlichungen bestand ohnehin kein Anlaß zu besonderer Eile.
    Dennoch hielt der traurige Dichter gerade diese Geschichte, deren erste Seiten der Wind davongetragen hatte, für etwas Besonderes. Zum ersten Mal seit längerer Zeit war es ihm gelungen, sich aus der Umklammerung persönlicher Erinnerungen zu lösen. Vielleicht war es ein Fehler gewesen, seine früheren Erzählungen zu eng mit der Vergangenheit und der eigenen Person zu verbinden. Wer interessierte sich schon für seine Befindlichkeiten?
    Die neue Geschichte handelte dagegen von Personen und Dingen, die es in der Wirklichkeit nicht gab. Sie war im Grunde ein Märchen und bot dem Dichter jene Freiheiten, die er zuletzt so vermißt hatte. Die Welt, die er mit dem fiktiven Städtchen Canburg erschaffen hatte, gehörte allein ihm. Er mußte sich vor niemandem rechtfertigen für das, was dort geschah, nichts begründen. Es gab auch keine lebenden oder toten Vorbilder für die handelnden Personen, denen er auf irgendeine Art Gerechtigkeit widerfahren lassen mußte. Die Leute in se i ner Stadt lebten nur, weil er es so gewollt hatte. Sie waren ihm gewissermaßen ausgeliefert, schließlich existierten sie ja nur in seiner Phantasie.
    Die Arbeit ging ihm so leicht von der Hand, daß er die Geschichte innerhalb weniger Tage vollendet hatte. Er war gerade dabei, die überarbeitete Version des Puppenmachers auszudrucken, als sein Blick zufällig an dem Lichtfleck hängenblieb, der durch das einzige Fenster auf den Boden fiel. Etwas stimmte nicht. Der Fleck war heller als sonst – zu hell.
    Der alte Mann lief zum Fenster und rieb sich verblüfft die Augen: Die vertraute Landschaft war verschwunden, ersetzt von etwas, das so offenkundig nicht hierher gehörte, daß es ihm den Atem verschlug. Draußen, unmittelbar vor dem Haus, verlief plötzlich eine Straße, gesäumt von ärmlichen Reihenhäusern, die aussahen wie Kulissen zu einem historischen Film. Aber das war noch längst nicht alles, denn über den schmutzigen Ziegeldächern strahlte die Sonne von einem blauen Himmel!
    Der Dichter schloß die Augen und öffnete sie wieder. Die Straße war immer noch da. Das braune, unebene Backsteinpflaster glänzte im Sonnenlicht. Solche Straßen gab es schon lange nicht mehr, nicht einmal auf der Erde.
    Doch ihm blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn in diesem Augenblick erreichte die Veränderung seine unmittelbare Umgebung.
    Einige Möbelstücke und Gegenstände verschwanden, lösten sich buchstäblich in Luft auf, während andere ihre Form verloren, sich ausdehnten, schrumpften oder den Standort wechselten. Der Schreibtisch verwandelte sich vor den Augen des Dichters in eine Ladentheke, auf der eine mechanische Registrierkasse den verschwundenen Computer ersetzte. Die Küchenzeile wich einer hölzernen Werkbank, deren Arbeitsfläche von einer altmodischen Schirmlampe in gelbes Licht getaucht wurde. Die farbigen Kunstdrucke an den Wänden verblichen und wurden durch ein Arsenal wertvoll aussehender Wanduhren und Regulatoren ersetzt, die allesamt die exakt gleiche Zeit anzeigten: Viertel vor zwölf.
    Daß die Verwandlung völlig geräuschlos vor sich ging, ließ die Szene noch gespenstischer erscheinen. Dennoch weigerte sich der alte Mann, an eine Sinnestäuschung zu glauben. Das änderte sich erst, als Wände und Decke plötzlich in Bewegung gerieten und er den Eindruck hatte zu schrumpfen. Ein Schauer durchlief seinen Körper, und das Schwindelgefühl wurde so übermächtig, daß er die Augen schließen mußte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
    Augenblicke später hatte er alles vergessen, was sein bisheriges Leben ausgemacht hatte. Das bedeutete jedoch nicht, daß er nun keine Erinnerungen mehr besaß. Es waren nur andere Erinnerungen, die nichts mit seinem früheren Ich zu tun hatten. Sie gehörten einem Mann, der sich Alois Sonnenschein nannte und seit einigen Wochen eine Uhrmacherwerkstatt in der Stadt betrieb. Der Name und seine Arbeit gefielen ihm, auch wenn die Geschäfte alles andere als gut liefen. Aber das war nicht wichtig, denn seine Ansprüche waren so gering, daß er leicht mit dem wenigen auskommen konnte, das er einnahm. Außerdem war er nicht hier, um Geschäfte zu machen ...
    Ein Geräusch riß ihn aus seinen Betrachtungen. Er besaß ein feines Gehör und vermochte das Klappern der Wagenräder und das leichte Federnquietschen sofort einzuordnen: ein Puppenwagen, der

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