Die Schatten des Mars
hatte seine Hoffnungen und Träume wie einen Schild vor sich hergetragen, bis er Lara verloren und begriffen hatte, daß es keine be s sere Zukunft gab. Hoffnungen waren wie Heubündel, die man Eseln vor das Maul hielt, damit sie unterwegs nicht stehenblieben. Nur mit dem Unterschied, daß am Ende des Weges keine Belohnung wartete, sondern das Nichts. Die Zeit war dafür verantwortlich, und so hatte er ihr den Kampf angesagt.
Im Haus des traurigen Dichters gab es keine Spiegel. Das machte zwar die Morgentoilette etwas umständlicher, enthob ihn jedoch der Notwendigkeit, sich mit eventuellen Anzeichen körperlichen Verfalls auseinanderzusetzen.
Da seine Uhr längst stehengeblieben war, bestimmte einzig der Wechsel zwischen Tag und Nacht seinen Lebensrhythmus, den er jedoch nach Gutdünken ändern konnte, indem er sich für einige Zeit in den ewigen Sommer des Gewächshauses zurückzog.
Folgerichtig führte der Dichter keinen Kalender – wozu auch, da er doch keinerlei Termine einzuhalten hatte? Wann und bei welchem Verlag sein neues Buch erscheinen würde, stand noch nicht fest, auch, weil er sich keineswegs sicher war, ob er es überhaupt veröffentlichen lassen sollte.
Der Dichter hatte immer davon geträumt, eines Tages etwas zu schreiben, das über die ihm zugemessene Lebensspanne hinweg Bestand haben würde. Die Lieder waren ihm lange Zeit als ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu diesem Ziel erschienen – bis das Meer zu ihm gesprochen hatte.
Vergiß die alten Städte, hatte ihm eine Stimme zugeraunt, als er sich eines Morgens weiter als gewöhnlich hinaus in die endlos scheinende Weite des Sandmeeres gewagt hatte. Nichts ist so gewesen, wie du es dir vo r stellst. Du solltest mir besser von Dingen erzählen, die ich noch nicht kenne.
Er war stehengeblieben und hatte sich erschrocken umgesehen, aber es war niemand in der Nähe gewesen. Mehr Zeit war ihm nicht geblieben, denn plötzlich waren Staubteufel aufgetaucht – filigran erscheinende Gebilde, die einen erwachsenen Mann dennoch Dutzende Meter weit durch die Luft schleudern konnten – und er war zum Ufer zurückgelaufen, so schnell ihn seine Füße trugen.
Später, nachdem er sich eine Kanne Tee gekocht und seine schmerzenden Glieder am Kamin gewärmt hatte, war ihm die Szene zunehmend irreal erschienen. Gleichwohl hatte er sich nie wieder so weit vom Ufer entfernt wie an jenem denkwürdigen Tag. Und eine Fortsetzung der Lieder hatte er auch nicht geschrieben, obwohl er früher oft mit dem Gedanken gespielt hatte.
Seither hatte das Meer nicht wieder zu ihm gesprochen, und so war er nach einer Phase des Zweifels zu der Überzeugung gekommen, daß er sich vielleicht doch getäuscht oder das Echo seiner eigenen Gedanken als Stimme wahrgenommen hatte. Dennoch kam es immer wieder vor, daß ihn ein mehr oder weniger zufälliges Geräusch in höchste Anspannung versetzte wie ein Tier, das Witterung aufgenommen hatte. Manchmal glaubte er sogar, im Rauschen des Windes einzelne geflüsterte Worte wahrzunehmen, aber das waren gewiß Ausgeburten seiner Phantasie.
Während seiner Strandspaziergänge machte der traurige Dichter häufig an einem Ort Station, den er wegen der phantastischen Aussicht »Seeblick« genannt hatte. Dort saß er oft stundenlang im Windschatten eines überhängenden Felsens und beobachtete das Spiel der Rot- und Ockertöne auf der schimmernden Oberfläche des Sandmeeres.
Wenn er gerade an einem Text arbeitete, nutzte er den Aufenthalt auch, um die zuletzt geschriebenen Abschnitte noch einmal durchzulesen und zu korrigieren. Die kühle, klare Luft machte den Kopf frei und schärfte den Blick für das Wesentliche. Mitunter kritzelte er mit frostklammen Fingern Anmerkungen auf die Seitenränder, die zwar später nur schwer zu entziffern waren, ihm aber schon häufiger weitergeholfen hatten.
Vor einigen Tagen war ihm dabei allerdings ein Mißgeschick unterlaufen. Eine plötzliche Windböe hatte ihm das Manuskript buchstäblich aus den Händen gerissen und die Bögen wie einen Schwarm weißer Seevögel in Richtung Meer davongetragen. Das geschah so rasch und unerwartet, daß er gar nicht erst versucht hatte hinterherzulaufen, um noch das ein oder andere davon zu retten.
Da er den Text jederzeit neu ausdrucken konnte, war der Verlust geringer gewesen als sein Ärger über die eigene Ungeschicklichkeit. Die verlorengegangenen Korrekturen und Änderungen hatte er noch am gleichen Abend nachgetragen, so daß das Malheur im Grunde ohne Folgen
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