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Die Schatten des Mars

Die Schatten des Mars

Titel: Die Schatten des Mars Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank W. Haubold
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Hügelkette und schaute hinab in ein Tal, dessen Sohle sich wie ein dunkler Fluß zwischen sanft geschwungenen Hängen nordwärts wand.
    Hier! wußte Lena, noch bevor sie den winzigen rötlichen Lichtpunkt in der Tiefe bemerkt hatte, der ihr den Weg weisen sollte.
    Sie bewältigte den Abstieg so sicher, als sei ihr der schmale gewundene Pfad schon seit Jahren vertraut. Die blinzelnde Lichtfleck wurde allmählich größer, gewann an Helligkeit und Struktur.
    Ein Feuer, dachte Lena und lief dem zuckenden Lichtschein entgegen wie ein verirrtes Kind den Rufen seiner Mutter.
    Das Feuer brannte in einem tonnenförmigen Behältnis, das sie sofort an einen anderen Ort erinnerte: einen Müllplatz am Stadtrand von Moskau, wo ein Dutzend alter Männer mit ausdruckslosen, wie in Stein gemeißelten Gesichtern in die Glut starrten. Le Sacre du Printemps.
    Schon damals hatte sie die Szene für eine Art Omen gehalten, hatte geahnt, daß sie für etwas stand, für das sie sich unbewußt ein Leben lang bereitgehalten hatte: Opfe r tanz.
    »Ja«, flüsterten die Schatten mit den Stimmen des Windes.
    Sie sind hier. Lena spürte ihre Anwesenheit, noch bevor sie ihre Silhouetten im unsteten Licht des Feuers erkennen konnte.
    Es waren zwölf, und ihre weiten Gewänder verhüllten sie so vollständig, daß keinerlei Rückschluß auf ihre Gestalt möglich war. Sie trugen Masken aus schimmerndem Metall mit dunklen Augenschlitzen und einer breiteren Öffnung dort, wo sich bei Menschen der Mund befand. Sie bildeten einen Kreis – den Kreis – und als sie sich auf dem gefrorenen Boden niederließen, klang es wie das Rascheln trockenen Laubs.
    »Tanze!« raunten sie mit den Stimmen des Windes, der erstarb, als Lena die Mitte des Kreises betrat.
    Sie hatten lange gewartet, unvorstellbar lange nach menschlichen Maßstäben – Millionen und Abermillionen von Jahren, nachdem die Flüsse versiegt und der Sand ihre gläsernen Städte unter sich begraben hatte. Sie waren so alt, daß ihnen längst jedes Zeitgefühl abhanden gekommen war, aber jetzt waren sie so neugierig und erwartungsvoll wie Kinder. Sie lauschten der Musik, die das fremde Mädchen in sich trug, und genossen ihren Tanz, der sie an eine Zeit erinnerte, in der sie selbst noch Geschöpfe aus Fleisch und Blut gewesen waren, die Liebe, Schmerz und Tod kannten.
    Und Lena tanzte.
    Schon nach wenigen Takten hatte sie die Anwesenheit der Schatten ebenso vergessen wie deren Versprechen.
    Sie tanzte, weil die Musik sie dazu zwang. Sie hatte geglaubt, es würde wie damals sein, wenn sie allein im Übungsraum getanzt hatte, ohne Musikanlage, ohne Orchester, aber das hier war etwas völlig anderes. Es gab ein Orchester, auch wenn sie es nicht sehen konnte, das jeden Ton, jede Melodie aus ihrer Erinnerung aufnahm und sie hundertfach verstärkt wiedergab. Sie hörte die Musik nicht nur, sie spürte sie in jeder Zelle ihres Körpers. Sie mußte nichts weiter tun, als dem Fluß der Melodien, ihrem Rhythmus zu folgen wie ein Wellenreiter den heranrollenden Wogen. Musik und Bewegung verschmolzen zu einem fast rauschhaften Gefühl der Entrückung.
    Das unsichtbare Orchester spielte, und Lena tanzte, schwebte und flog, leichtfüßig und beinahe schwerelos. Längst hatte sie aufgehört, ihre Umgebung wahrzunehmen. Statt dessen drängten sich andere Bilder in ihr Bewußtsein, Orte und Menschen. Die Wiesen am Fluß, wo sie als Kind gespielt hatte, der Übungsraum im Kulturhaus, das Raubvogelgesicht der Baba-Jaga. Ihre Mutter, lachend wie ein junges Mädchen, und Papas trauriges Gesicht am Bahnhof, als er schon Uniform trug. Die Bilder wechselten schneller, wie Farben in einem Kaleidoskop: New York, die Freiheitsstatue, Paris, Salzburg, München und zuletzt doch wieder Moskau. Szenenwechsel. Saschas weißes Gesicht, Sekundenbruchteile, bevor er sie von der Bühne stieß, Fabian, still und selbst im Tod noch elegant, und natürlich Sergej ... Serjoscha ... Ach, wenn uns doch ein wenig mehr Zeit geblieben wäre.
    Sie sah die Bilder vorbeiziehen, während sie tanzte, aber sie taten ihr nicht mehr weh. In ihrem Herzen war kein Platz für Trauer, der Danse sacrale hatte sie ausgelöscht wie die Furcht vor dem, was sein würde.
    Lena tanzte, nur das war wichtig. Sie tanzte, leichtfüßig und beinahe schwerelos, als wäre eine Last von ihren Schultern genommen worden, und so wunderte sie sich auch nicht, daß sie keinerlei Erschöpfung verspürte.
    Mir ist wohl ein wenig schwindelig, dachte sie, als die Musik

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